Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
ukrainische Gebiete. Die Menschen in diesem Reich sprachen ein rundes Dutzend verschiedene Sprachen und hingen den unterschiedlichsten Glaubensrichtungen an, unter anderem der römisch-katholischen, der orthodoxen und dem Islam. Außerdem nahmen zahlreiche Juden in Wien eine gehobene und einflussreiche Stellung ein – und gerade dort griff der Antisemitismus immer weiter um sich. Angesichts dieser Umstände war es kein Wunder, dass Unruhen der einen oder anderen Art zum Alltag gehörten.
Zwar gingen von der Hauptstadt jenes Reiches auf dem Gebiet der Politik, Philosophie, Medizin, Musik und Literatur allerlei neue Entwicklungen aus, doch gab es in Wien nicht nur Licht, sondern auch Schatten. Man spürte ein gewisses Unbehagen, und von Zeit zu Zeit kam es zu Ausbrüchen von Gewalttätigkeit. Eine verhängnisvolle Bedrohung schien hinter dem Horizont zu liegen, die all der oberflächlichen Heiterkeit und dem Frohsinn ein Ende bereiten würde. Ob die Menschen dort den Ausbruch einer Revolution wie einst in Frankreich befürchteten? Oder gar einen Krieg?
Pitt dachte an Evan Blantyre, den er vor Kurzem bei einer musikalischen Abendunterhaltung kennengelernt hatte. Da dieser Mann ein umfangreiches Wissen über die Länder der Donaumonarchie besaß, bat er ihn um eine Unterredung, in der Hoffnung, von ihm die Informationen und die Hilfe zu bekommen, die ihm Lord Tregarron verweigert hatte. Er war angenehm überrascht, als sich Blantyre bereit erklärte, ihn nahezu sogleich zu empfangen. Schon weniger als eine Stunde später befand er sich in einem angenehmen Vorzimmer, an dessen Wänden Gemälde von Tiroler Landschaften hingen. Er musste nur kurz warten, bis er in Blantyres Arbeitszimmer geführt wurde, dessen Kamin behagliche Wärme verbreitete. Der Teppich in dem beinah wohnlich eingerichteten großen Raum, dessen Farben von Sonne und Alter ausgeblichen waren, war an einigen Stellen abgetreten. Vor und hinter dem alten Schreibtisch, dessen Holz wie Seide glänzte, standen bequeme Sessel.
»Guten Morgen, Commander«, sagte Blantyre freundlich und hielt ihm die Hand hin.
»Guten Morgen, Sir«, erwiderte Pitt. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich bereit erklärt haben, mich so rasch zu empfangen. Vielleicht ist die Sache nicht besonders wichtig, aber ich kann nicht einfach darüber hinweggehen.«
»Nur zu«, sagte Blantyre. »Nach dem Wenigen, was Sie meinem Sekretär mitgeteilt haben, macht das Ganze auf mich einen eher zufälligen Eindruck, sodass ich keinen wirklichen Grund für die Vermutung erkennen kann, ausgerechnet Herzog Alois könnte als Ziel eines Attentats auf britischem Boden ausersehen sein, immer vorausgesetzt, dass überhaupt eines geplant ist.« Er wies auf den Sessel, der dem Feuer am nächsten stand, und sie setzten sich einander gegenüber.
»Vermutlich ist es wirklich nichts von Bedeutung«, stimmte Pitt zu. »Aber so vieles beginnt als Gerücht, dann folgt irgendeine Zufälligkeit, gleich darauf eine andere, Menschen zeigen ein Interesse an diesem und jenem, und niemand weiß, warum.«
Blantyre lächelte ein wenig gequält, doch auf seine Züge trat Neugier. »Wie zum Teufel will man da wissen, worauf es ankommt? Gibt es dafür so etwas wie eine handhabbare Formel, oder ist man auf seinen Instinkt angewiesen? Braucht man dafür bestimmte Fähigkeiten – oder kann man das nur durch Erfahrung herausbekommen und weil man ein- oder zweimal knapp danebengelegen hat?« Er sah Pitt fragend an.
Dieser zuckte die Achseln. »Manchmal bin ich versucht zu denken, dass dabei ziemlich viel Glück mit im Spiel ist, aber ich nehme an, es ist in Wahrheit darauf zurückzuführen, dass man alles beständig im Auge hat und Dingen auf den Grund geht, die einem sonderbar vorkommen.« Er lächelte. »Und wie Sie gesagt haben, dass man das ein oder andere Mal haarscharf davongekommen ist.«
Blantyre nickte. »Ich verstehe. Man muss es genau nehmen, auf alle möglichen Einzelheiten achten und ziemlich viel Arbeit investieren. Doch was hat Sie an diesen Fragen in erster Linie beunruhigt? Sind Sie wirklich der Ansicht, dass ein Gewaltakt geplant ist? Aber gegen wen denn nur, um Gottes willen? Für den Fall, dass es sich in der Tat um Herzog Alois handeln sollte, warum dann hier? Ich halte das für unwahrscheinlich, und sei es nur, weil ein solches Vorhaben für die Täter in einem fremden Land schwieriger ist als im eigenen. Außerdem ist da noch die Frage des Entkommens in einer Umgebung, in der sie nicht auf
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