Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
zu bedenken. »Ganz davon abgesehen macht das großen Spaß!« Das Lächeln, das dabei auf ihre Züge trat, galt zweifellos angenehmen Erinnerungen und hatte nichts mit warmen Empfindungen zu tun.
»Mir genügt es, einige Freunde einzuladen«, sagte Charlotte rasch und achtete darauf, mit ihrem Pferd nicht zurückzufallen. »Und die sind mit unserem Haus voll und ganz zufrieden.«
»Man wird aber doch angesichts Thomas’ neuer Position erwarten, dass ihr auch Leute einladet, mit denen ihr nicht unbedingt befreundet seid?« Emily hob ihre hellen Brauen. »Mit dieser Beförderung sind gewisse Verpflichtungen verbunden, das muss dir klar sein. Der Leiter der Abteilung Staatsschutz steht deutlich höher als selbst der brillanteste Polizeibeamte. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, sozusagen von Gleich zu Gleich mit Ministern, Botschaftern und allerlei anderen ehrgeizigen und nützlichen Menschen zu verkehren.«
»Ich bezweifle, dass wir je die Mittel für ein Haus haben werden, in das wir solche Menschen einladen könnten«, gab Charlotte trocken zurück. »Schließlich handelt es sich um eine Beförderung und nicht um eine Erbschaft.«
Emily zuckte zusammen. »Mir war nicht bewusst, dass dich das so bedrückt. Entschuldige.«
Charlotte zügelte ihr Pferd. »Was soll mich bedrücken?«, fragte sie.
Emilys Pferd blieb ebenfalls stehen. »Geld. Reden wir nicht über Geld?«
»Das tust du«, korrigierte Charlotte sie. »Ich habe vom Leben in einem Haus gesprochen, in dem ich mich wohlfühle, und davon, dass ich kein größeres kaufen möchte, denn ich brauche es nicht und würde mich darin fremd fühlen, weil es dort keine Erinnerungen gibt und mir nichts vertraut ist. Ich bin nicht du, Emily, und ich habe nicht die gleichen Bedürfnisse wie du.«
»Hör doch mit deiner pharisäerhaften Selbstgerechtigkeit auf!«, fuhr Emily sie an. »In Wirklichkeit ärgerst du dich, weil Jack Thomas mitteilen musste, dass Lord Tregarron ihn nicht vorlassen wollte – oder etwa nicht?«, fuhr sie in herausforderndem Ton fort, als wolle sie, dass Charlotte das bestritt.
»Hast du gerade ›pharisäerhaft‹ gesagt?«, fragte Charlotte.
»Ich wollte damit nicht …«
»Ach nein?«, fiel sie der Schwester ins Wort. »Du scheinst darüber ja weit mehr zu wissen als ich. Aber das liegt daran, dass Thomas’ Arbeit geheim ist. Er darf niemandem etwas darüber sagen, nicht einmal mir.« Sie trieb ihr Pferd wieder an, fort von der Schwester. Auseinandersetzungen waren ihr verhasst, vor allem mit Menschen, die ihr so nahestanden wie Emily. Sie fühlte sich unglücklich und sonderbar allein, wollte aber auf keinen Fall zulassen, dass Jacks jüngst erfolgte Beförderung ihm oder Emily zu Kopf stieg, denn das würde Pitts Unsicherheit nur verstärken. Möglicherweise war ihre Fürsorge für Thomas übertrieben, aber das galt auch für Emily in Bezug auf Jack. Charlotte fürchtete, dass dieser politische Macht gewann, ohne so recht zu wissen, wie er sie anwenden sollte.
Erneut zügelte sie ihr Pferd und wartete, bis Emily aufgeholt hatte. Ohne sie anzusehen, kam sie noch einmal auf das Thema zu sprechen: »Ich möchte vorerst nicht umziehen. Damit würden wir Dinge als gegeben voraussetzen, die es noch nicht sind. Ich hatte gedacht, dass ausgerechnet du das verstehen könntest. Deine gesellschaftliche Stellung und deine finanzielle Situation sind gesichert, aber es kann noch eine ganze Weile dauern, bis du das auf politischer Ebene sagen kannst.«
»Ist das Thomas’ Einschätzung?« Emily war nach wie vor nicht besänftigt.
Charlotte zwang sich zu einem Lachen. »Keine Ahnung. Er hat nicht darüber gesprochen. Warum? Glaubst du, dass Jack es nicht viel weiter bringt? Das wäre in der Tat schade.«
Emily brummelte etwas Unverständliches vor sich hin, doch war Charlotte klar, dass es sich dabei um äußerst gereizte Worte handelte.
Während Charlotte im Hyde Park mit ihrer Schwester ausritt, versuchte Pitt in seinem Büro in Lisson Grove alle Angaben zusammenzutragen, die in neuerer Zeit über Gruppen von Unzufriedenen in Mittel- oder Osteuropa beim Staatsschutz eingegangen waren, insbesondere über solche aus dem riesigen Reich der Habsburger, das sich von Österreich ostwärts bis an die Ostgrenze Ungarns und südwärts bis Norditalien und auf die Balkanhalbinsel erstreckte, wo die Völkerschaften der Serben, Kroaten, Slowenen und Rumänen lebten. Im Norden umfasste es Böhmen und Mähren, das Königreich Galizien sowie
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