Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
nachgelassen hatte, spürte man immer noch die Kälte – ein perfekter Wintermorgen für einen Ausritt.
Als sie am Hyde Park aus der Droschke stieg, war sie dennoch nicht annähernd so begeistert wie bei der Verabredung. Immer wieder drängte sich in ihr Bewusstsein, was Pitt über sein Zusammentreffen mit Jack in Lord Tregarrons Vorzimmer gesagt hatte.
Die Äste der kahlen Bäume im Park bildeten ein schwarzes Gitterwerk vor dem Himmel. Zahlreiche Hufe hatten die Erde des langen Reitwegs aufgeworfen, und das Gras daneben wies eine sonderbare Färbung auf, zweifellos ein Ergebnis des Frosts. In der Ferne sah man mindestens zwanzig Reiter: Einige der Männer trugen farbenprächtige Militäruniformen, die Frauen ritten in modisch geschnittenen Kostümen anmutig im Damensitz.
Der leichte Wind trug Gelächter, das Klirren von Zaumzeug und gelegentlich Hufschlag herüber, wenn jemand auf dem hart gefrorenen Boden aus dem Schritt in Trab fiel.
Während Charlotte auf die von Reitknechten gehaltenen Pferde zuging, fragte sie sich, was Emily über Pitts Begegnung mit Jack am Vortag wissen mochte. Fühlte auch er sich zur Geheimhaltung verpflichtet, wenn es um seine Arbeit ging? Da er wohl annahm, dass seine Frau jetzt von Charlotte etwas darüber erfahren würde, hatte er sie vermutlich ungeachtet der Vorschriften darauf vorbereitet.
Sie sah Emily, die sich wegen ihrer schlanken Gestalt schon aus der Ferne leicht von anderen Frauen unterscheiden ließ, bei ihrem Pferd stehen. Ein flacher Hut mit hochgebogener Krempe saß über dem Knoten, zu dem sie ihr blondes Haar zusammengefasst hatte. Unwillkürlich fragte Charlotte sich, was die exquisite Kopfbedeckung gekostet haben mochte, und konnte sich eines Anflugs von Neid nicht erwehren.
Als Emily den Kies unter Charlottes Schritten knirschen hörte, wandte sie sich um und kam auf sie zu.
»Guten Morgen«, sagte sie mit einem leichten Lächeln, wobei sie der Schwester in die Augen sah. »Bist du bereit?«
»Aber ja«, gab diese zurück. »Ich habe mich richtig darauf gefreut.« Es war eine sonderbar gestelzte Unterhaltung und gänzlich anders als die fröhliche, unbefangene Art, in der sie normalerweise miteinander verkehrten.
Ohne sich anzusehen, gingen sie nebeneinander zu den Reitknechten, ließen sich in den Sattel helfen und begannen ihren Ritt im gemächlichen Schritt. Sie nickten grüßend anderen Reitern zu, denen sie begegneten, ohne sie anzusprechen, da sie keinen von ihnen kannten.
Je länger das Schweigen dauerte, desto schwieriger würde es sich brechen lassen. Es war Charlotte klar, dass sie unbedingt etwas sagen musste, und sei es noch so banal. Mitunter bedeuteten Worte wenig, wenn es in erster Linie darum ging, miteinander zu sprechen.
»Wir hatten überlegt, ob wir umziehen«, begann sie. Auf keinen Fall wollte sie mit der Tür ins Haus fallen und von sich aus auf die Sache mit Jack und Lord Tregarron zu sprechen kommen. »Thomas hat mich gefragt, ob ich das möchte, aber ehrlich gesagt gefällt es mir in der Keppel Street. So viel Wichtiges ist geschehen, seit wir in dem Haus wohnen. Es steckt bis unter das Dach voll Erinnerungen, die ich nicht missen möchte, jedenfalls jetzt noch nicht.«
Emily warf ihr einen Seitenblick zu. »Hättest du nicht gern etwas Größeres? Vielleicht an einem der Plätze mit den schönen grünen Parks? Oder findest du, dass es dafür noch ein bisschen früh wäre?« Das war ihre Art, sich zu erkundigen, ob Charlotte sicher war, dass Pitt der neuen Aufgabe gewachsen war.
Einen Augenblick lang gab Charlotte keine Antwort. Obwohl sie die Ältere war, würde sie gesellschaftlich stets unter Emily rangieren, zum einen wegen Pitts bescheidener Anfänge, aber auch, weil Emily ein Vermögen besaß, von dem Charlotte nicht einmal träumen konnte.
Eine verlegene Röte trat auf Emilys Gesicht, und sie sah beiseite, als müsse sie sich auf dem völlig ebenen und hindernisfreien Weg darauf konzentrieren, das Pferd zu lenken.
»Es ist immer klug, Erfolg nicht für selbstverständlich zu halten«, gab Charlotte ruhig zurück. »Dann ist die Fallhöhe nicht so hoch, wenn er sich nicht einstellt.« Sie sah, wie sich Emilys Züge anspannten. »Aber eigentlich wollte ich damit wirklich nur sagen, dass ich noch nicht so weit bin, ein Haus zu verlassen, das so voller Erinnerungen steckt. Zusätzliche Räume brauche ich nicht, da ich keine Gesellschaften zu geben gedenke.«
»Dir wird wohl kaum etwas anderes übrig bleiben«, gab Emily
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