Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Papieren in der Hand da und versuchte sich vorzustellen, was der alte Kaiser Franz Joseph davon gehalten haben mochte. Nach allem, was er Blantyres Aufzeichnungen hatte entnehmen können, gingen die Ansichten des neuen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand, keineswegs in die gleiche Richtung wie die Rudolfs. Auch wenn sie sich radikal von denen seines Onkels, des Kaisers, unterschieden, so waren ihm doch Sozialismus und Reformen ein ebensolcher Gräuel wie jenem.
Blantyres Schlussfolgerung war eindeutig. Ihm zufolge gab es eine Verschwörung zur Ermordung des Herzogs Alois von Habsburg auf britischem Boden – möglicherweise gar in London, denn man hatte auch Erkundigungen über Einzelheiten zum Hotel Savoy und dem Kensington-Palast eingezogen.
Ein solches Attentat würde England der Welt gegenüber in eine entsetzlich peinliche Lage bringen, von der Katastrophe für den Staatsschutz ganz zu schweigen.
Am nächsten Vormittag suchte Pitt erneut Lord Tregarrons Amtsräume auf. Er musste ihm zumindest klarmachen, dass eine wirkliche Bedrohung bestand, und nach Möglichkeit erreichen, dass man das Datum der Reise, wenn nicht gar den Reiseweg, in letzter Minute änderte. Außerdem musste dafür gesorgt werden, dass auch Herzog Alois von der ihm drohenden Gefahr unterrichtet wurde.
Wie beim vorigen Mal empfing ihn Jack, der wieder eine gestreifte Hose zum schwarzen Jackett trug. Er sah verlegen drein, als er den Raum betrat, in den man Pitt zum Warten gebeten hatte. Er schloss die Tür hinter sich und holte tief Luft. »Guten Morgen, Thomas. Wie geht es dir?«
Es war ein offenkundiger Versuch, die Form in einer Situation zu wahren, die ihm unbehaglich erschien.
Pitt hatte Widerstand vorhergesehen; jetzt war es seine Aufgabe, Jack die Ernsthaftigkeit der Bedrohung klarzumachen, damit dieser Tregarron davon überzeugen konnte. Er beschloss, sich zusammenzunehmen, nicht nur um Charlottes willen, sondern auch, weil ihm die Herrschaft über die Situation entgleiten würde, wenn er sich gehen ließe.
»Gut, danke«, gab er zurück. »Allerdings mache ich mir Sorgen.«
Um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, erklärte er: »Ich bin mit dem, was ich wusste, zu Evan Blantyre gegangen. Er ist, wie du weißt, unser bestinformierter Experte in Sachen Habsburgerreich. Ihn habe ich gebeten festzustellen, wie wahrscheinlich es ist, dass es in den nächsten ein, zwei Monaten hier bei uns zu ernsthaften Schwierigkeiten kommen könnte.« Er sah, wie sich Jacks Gesicht verfinsterte und sich dessen Schultern so sehr strafften, dass sich der Stoff seines Jacketts spannte.
»Wie es aussieht, wird Herzog Alois von Habsburg in einigen Wochen einem Mitglied unserer königlichen Familie seine Aufwartung machen und dazu von Wien nach Calais reisen, mit der Fähre nach Dover übersetzen und schließlich den Zug nach London nehmen.«
»Ja, der übliche Weg«, fiel ihm Jack ins Wort.
»Das ist mir bewusst«, gab Pitt zurück. »Allerdings ist seine Zeitplanung nicht allgemein bekannt. Man hat sich nicht nur danach erkundigt, sondern auch Fragen über das Hotel Savoy gestellt, wo er sich aufzuhalten beabsichtigt, wie auch über den Kensington-Palast, wo man ihm zu Ehren einen Empfang geben wird.«
Ein Anflug von Besorgnis trat auf Jacks Züge. »Tatsächlich? Und wer steckt hinter diesen ›man‹? Vermutlich doch wohl österreichische Hofbeamte, die dafür sorgen sollen, dass alles glatt und sicher abläuft?«
»Nein, ganz im Gegenteil Leute, die uns als Agitatoren, Protestler und Anarchisten bekannt sind«, gab Pitt zurück. »Einer oder zwei von denen waren an Bombenanschlägen in Paris beteiligt.«
»Dann lass sie doch festnehmen.«
»Mit welcher Begründung? Weil sie sich nach Eisenbahn-Fahrplänen erkundigt haben?«
»Da hast du es. Geheimnisst du da nicht zu viel hinein? Du weißt ja wohl, dass dieser Alois eine ziemlich unbedeutende Gestalt ist.« Jack gestikulierte, als wolle er den Schwager zur Vernunft rufen. »Wenn jemand ein Attentat verüben wollte, wäre ihm der Mann bestimmt weder den Zeitaufwand noch das Risiko wert.«
»Bist du dir da sicher?«, fragte Pitt ernst.
»Ja.« Es klang so verärgert, dass er sich fragte, ob Jack wirklich sicher war oder bisher lediglich nicht über die Sache nachgedacht hatte. Wie er ihn einschätzte, würde er seinen Vorgesetzten spontan verteidigen und sich später nach den Einzelheiten erkundigen – so war das bei getreuen Untergebenen üblich.
Pitt schüttelte den Kopf. »Ich
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