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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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mehr, mit denen wir diese Erinnerungen teilen können.«
    Lächelnd gab Nerissa zurück: »Das kann ich mir denken. Allerdings fürchte ich, dass Sie meine Tante bei noch deutlicher getrübtem Verstand vorfinden werden als in der vorigen Woche. Ihre Kräfte nehmen rasch ab.« Auf ihre Züge legte sich ein flüchtiges entschuldigendes Lächeln. »Ihre Erinnerungen sind noch unzusammenhängender, und mitunter fantasiert sie längere Zeit. Sie kann nicht mehr zwischen Dingen unterscheiden, die sie selbst erlebt hat, und solchen, von denen sie gelesen oder von denen man ihr berichtet hat. Ich fürchte, Sie werden viel Geduld aufbringen müssen.«
    »Das versteht sich von selbst«, teilte Vespasia ihr mit. »Und es spielt auch kaum eine Rolle. Ich bin gekommen, um eine Freundin zu besuchen, und nicht, um einen Zeugen historischer Vorfälle ins Kreuzverhör zu nehmen.«
    »Es war nicht meine Absicht, Sie zu kränken«, sagte Nerissa Freemarsh und senkte den Blick. »Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, wie sehr sich Tante Serafinas Zustand selbst in der kurzen Zeit seit Ihrem vorigen Besuch verschlechtert hat, um Ihnen einen möglichen Schock zu ersparen. Es ist wirklich ziemlich schlimm. Ich weiß nicht recht, wie ich das taktvoll ausdrücken soll, aber …« Sie unterbrach sich, als finde sie nicht die richtigen Worte.
    »Aber was?« Jetzt war es Vespasia peinlich, der jungen Frau so kühl gegenübergetreten zu sein. Ganz offensichtlich machte sie sich Sorgen. Vielleicht waren andere Besucher taktlos gewesen oder hatten zu deutlich ihre Betretenheit gezeigt. »Was beunruhigt Sie, Miss Freemarsh?«, fragte sie in freundlicherem Ton. »Alter und Krankheit? Die meisten von uns, die das Glück hatten, lange zu leben, vergessen Dinge. Es kann einem Angst machen, wenn man sich darüber klar wird, dass es uns eines Tages alle treffen kann, aber es gibt keinen Grund, sich dessen zu schämen. Sie brauchen sich also nicht zu entschuldigen.«
    Nerissa hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Es ist mehr als Vergesslichkeit, Lady Vespasia.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Sie schafft sich eine Fantasiewelt und bildet sich ein, früher wer weiß was für großartige Taten vollbracht zu haben. Das ist besonders peinlich, weil sie ihre Reden darüber mit Einzelheiten ausschmückt, bei denen es zum Teil um wirkliche Ereignisse und um Menschen geht, die tatsächlich gelebt haben.« Sie kaute auf ihrer Lippe herum, bis sie ganz dunkel war. »Ich würde am liebsten dafür sorgen, dass sich niemand so an sie erinnert, wenn sie die Herrschaft über ihren Geist und meist auch über ihre Zunge verliert.« Sie wandte sich ab und sah zu Boden. »Sie müssen wissen, dass sie voller Bewunderung für Sie ist …«
    Vespasia war verblüfft. Immerhin bestand zwischen ihnen nicht nur ein Altersunterschied von zehn Jahren – sie waren auch grundverschieden voneinander. Während Vespasia mit Geist, Klugheit und ihrer außergewöhnlichen Schönheit Dinge von mächtigen Männern erfahren und sie dazu gebracht hatte zu handeln, wie sie es für klug oder besser gesagt für richtig hielt, war die Ältere eine Abenteurerin im wahrsten Sinne des Wortes gewesen: unvorstellbar mutig, geschickt und mit Nerven aus Stahl. Sie war in Kroatien mit den Aufständischen geritten und hatte beim Oktoberaufstand des Jahres 1848 mit dem Gewehr in der Hand auf den Barrikaden von Wien gestanden, bis die Sache kläglich in sich zusammengebrochen war und der Kaiser erneut die Zügel in die Hand genommen hatte.
    Vespasia hatte Vergleichbares nur ein einziges Mal getan, und zwar in Rom, als sie noch sehr jung war. Seit jener Zeit hatten sich ihrer beider Wege vielleicht ein halbes Dutzend Mal gekreuzt, außerdem hatten sie durch Gleichgesinnte gelegentlich voneinander erfahren.
    »Sind Sie sicher?«, fragte sie ruhig. »Ich denke, dass es treffender wäre, von Achtung zu sprechen, denn die empfinde ich auch ihr gegenüber. In späteren Jahren ist zwischen uns eine Freundschaft entstanden, die möglicherweise sowohl auf die Kenntnis dessen zurückgeht, wofür wir gekämpft haben, als auch auf die Leidenschaft, die Hoffnung und die Verluste jener Tage.«
    »Sie sind sehr bescheiden«, gab Nerissa zurück. In ihrer Stimme lag ein kaum spürbarer Anflug von Bitterkeit. »Aber ich meinte wirklich Bewunderung. Immerhin können Sie darauf verweisen, dass Sie tatsächlich einiges von dem getan haben, wovon Tante Serafina sich lediglich einbildet, es getan zu haben. Sie

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