Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
haben die Menschen gekannt, denen sie gern begegnet wäre.« Sie sah Vespasia offen und eine Spur herausfordernd an. »Sie wird versuchen, Sie zu beeindrucken. Es tut mir leid. Es ist beschämend. Vielleicht sollten Sie besser einfach Ihre Karte dalassen. Ich sage ihr dann, dass Sie hier waren, während sie schlief, und sie nicht stören wollten.«
»Sie wird Ihnen nicht glauben«, gab Vespasia zurück. »Sie wird merken, dass Sie Menschen davon abhalten, sie zu besuchen, weil Sie sich für Ihre Großtante schämen. Ich denke nicht daran, mich an diesem schandbaren Verhalten zu beteiligen.«
Nerissas bleiche Wangen röteten sich, und ihre Augen funkelten vor Zorn. Aber noch war sie nicht Herrin des Hauses und wagte daher nicht aufzubegehren.
»Ich wollte lediglich Ihre Gefühle schonen«, sagte sie ganz ruhig, »und erreichen, dass Tante Serafina den Menschen als die stolze und besonnene Frau in Erinnerung bleibt, die sie einst war, und nicht in ihrem jetzigen beklagenswerten Zustand. Es tut mir leid, wenn Sie das missdeutet haben sollten.«
»Ich missdeute es keineswegs«, teilte ihr Vespasia mit, die zwischen Mitgefühl und Ärger schwankte. »Und ich versichere Ihnen, dass es unerheblich ist, was ich empfinde. Ich werde mich an Serafina erinnern, wie ich sie früher gekannt habe, unabhängig von dem, was jetzt geschieht. Mir ist durchaus bewusst, dass sich der Mensch verändert, wenn er älter wird, und dass das keineswegs immer einfach oder gar angenehm ist.«
»Sie haben sich nicht verändert«, sagte Nerissa mit einer Offenheit, die an Groll grenzte. »Sie sind immer noch schön, und ich bezweifle, dass sich Ihre Gedanken je von ihrem eigentlichen Ziel ablenken lassen oder Ihre Erinnerung Ihnen Dinge vorgaukelt, die nie geschehen sind.«
»Bisher nicht.« Jetzt war Vespasia selbst verlegen, als sei es ein unverdientes Glück, dass sie ihre Gedanken beisammen hatte und bei guter Gesundheit war. »Aber niemand weiß, wie die Zukunft aussieht. Vielleicht bin ich in zehn Jahren zutiefst dankbar, wenn sich Freunde und Bekannte noch an mich erinnern und mich selbst dann besuchen, wenn ich nicht mehr recht weiß, was ich sage, weitschweifig rede oder mich in einer Vergangenheit verliere, in der ich voll Leben, im Besitz all meiner Fähigkeiten war und davon träumte, große Dinge zu vollbringen.«
Ohne darauf einzugehen, führte Nerissa sie die breite Treppe empor und vor die Tür von Serafinas Schlafzimmer. Auf dem Treppenabsatz angekommen, hörte Vespasia, wie unten der Lakai die Haustür öffnete und eine Besucherin mit den Worten begrüßte: »Guten Morgen, Mrs. Blantyre. Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen. Treten Sie doch bitte ein. Es ist ein garstiges Wetter.«
Nerissa wandte sich halb um, und Vespasia erkannte auf ihren Zügen Verblüffung, aber zugleich auch eine Art Entschlossenheit sowie eine Empfindung, die sie nicht recht deuten konnte.
»Ich glaube, da ist noch mehr Besuch für Tante Serafina«, sagte sie rasch. »Ich muss nach unten gehen und die Dame begrüßen.« Sie klopfte kräftig an die Tür, vor der sie inzwischen standen, und stieß sie auf, ohne eine Antwort abzuwarten, damit Vespasia eintreten konnte. Dann entschuldigte sie sich und eilte die Treppe hinab.
»Selbstverständlich«, sagte Vespasia und trat allein in Serafinas Schlafzimmer.
Eine silberne Haarbürste in der Hand, stand Miss Tucker in der Nähe der Tür zum Ankleidezimmer. Bei Lady Vespasias Anblick traten ein Lächeln und ein Ausdruck von Erleichterung auf ihre Züge.
»Guten Tag, Mylady, wie geht es Ihnen?«
»Guten Tag, Miss Tucker. Sehr gut. Es freut mich zu sehen, dass Sie bei Mrs. Montserrat sind.«
Vespasia nickte ihr lächelnd zu und wandte sich dann dem Bett zu, in dem Serafina aufrecht saß und Vespasias Lächeln erwiderte. Sie schien bei klarem Verstand zu sein. Erst als Vespasia näher trat, erkannte sie in ihrem Blick eine Leere, die unausgesprochene Frage, wer die Besucherin wohl sein mochte.
Vespasia setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und empfand einen Augenblick lang genau die Verlegenheit und Sorge, deren Gewicht sie Nerissa gegenüber heruntergespielt hatte. Da sie nicht damit gerechnet hatte, die Freundin in diesem Zustand anzutreffen, fühlte sie sich davon überwältigt. Sie wusste nicht recht, was sie zu der hilflosen Frau sagen sollte, die nicht nur unter einem alternden Körper, sondern auch darunter litt, dass ihr Geist sie im Stich ließ. Was auch immer sie sagte, es würde
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