Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Nerissa gesprochen hatte?
»Das klingt wirklich aufregend«, sagte Adriana interessiert. »Und gefährlich.«
»O ja.« Serafina lehnte sich ein wenig in die Kissen zurück. Dabei ging der Blick ihrer dunklen Augen weit in die Ferne der Erinnerung. »Sogar sehr gefährlich. Es hat Tote gegeben.«
»Tote?«, fragte Adriana flüsternd, während ihr die Farbe aus dem Gesicht wich.
Vespasia holte Luft, um etwas zu sagen. Natürlich hatte es Tote gegeben, aber das war lange her, und es hatte keinen Sinn, diese Tragödien wieder aufzurühren. Aber bevor sie den Mund öffnen konnte, fuhr Serafina mit leiser Stimme fort: »Tapfere Leute. Die Menschen waren voller Leidenschaft. Männer und Frauen opferten ihr Leben im Kampf um die Freiheit.« Mit gerunzelter Stirn sah sie Adriana eine Weile aufmerksam an. »Aber Sie wissen das ja und kennen all diese alten Geschichten. Sie stammen doch aus Kroatien.«
Adriana nickte. »Ich habe davon gehört«, sagte sie mit erstickter Stimme und hüstelte, um sich nicht zu räuspern, vielleicht aber auch, um die Herrschaft über ihre Gefühle zurückzugewinnen. »Ich war nicht selbst dort.«
Jetzt schien Serafina verwirrt zu sein. »Nein? Warum nicht? Wollen Sie denn keine Freiheit für Ihr Volk? Für seine Sprache, seine Musik und Kultur? Wollt ihr für alle Zeiten unter dem Joch Österreichs ächzen?«
»Nein«, flüsterte Adriana. »Selbstverständlich nicht.«
Diesmal mischte sich Vespasia höflich, aber voll Nachdruck ein. »Das liegt ewig zurück, meine Liebe. Damals war Mrs. Blantyre womöglich noch gar nicht auf der Welt oder ein kleines Kind. Bei diesen Dingen handelt es sich um einen alten Kummer, und vieles ist seither geschehen. Italien ist geeint und unabhängig, jedenfalls zum größten Teil.«
Serafina sah sie an, als habe sie ihre Anwesenheit einen Augenblick lang vergessen. »Auch Triest?«, erkundigte sie sich, und Hoffnung flackerte in ihren Augen auf.
Flüchtig erwog Vespasia, die Unwahrheit zu sagen, aber das wäre so herablassend und ein solcher Mangel an Achtung der anderen gegenüber gewesen, dass sie sich nicht dazu bringen konnte.
»Bisher nicht, aber es kommt bestimmt noch dazu«, versicherte sie ihr.
»Was tust du dafür?«, fragte Serafina unsicher, aber durchaus herausfordernd. Sie schien bemüht zu sein, sich an etwas Bestimmtes zu erinnern.
»Meinst du nicht, dass es besser ist, über etwas anderes zu reden?«, regte Vespasia an. »Wie wäre es mit Mode oder der neuesten Kunstausstellung? Wir könnten vielleicht sogar über unsere Innenpolitik sprechen.«
»Prinz Albert ist Deutscher, das weißt du ja«, gab Serafina zurück. »Die Leute aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha sind überall. Jeder, der etwas bedeutet, hat zumindest einen von ihnen in der Familie.«
»Prinz Albert lebt schon lange nicht mehr«, versicherte ihr Vespasia.
»Tatsächlich? Ach je.« Serafina zwinkerte irritiert. »Wer hat ihn umgebracht? Und warum nur um Himmels willen? Er war ein guter Mensch. Wie ganz und gar entsetzlich! Was soll nur aus der Welt werden?«
»Niemand hat ihn umgebracht«, sagte Vespasia mit einem Blick auf Adriana und sah dann erneut zu Serafina hin. »Er ist an Typhus gestorben. Es ist schon viele Jahre her. Aber du hast recht, er war ein guter Mensch. Vielleicht bringe ich dir bei meinem nächsten Besuch die neueste Ausgabe der London Illustrated News , dann kannst du lesen, worüber zur Zeit geklatscht wird, und dir auch die neuesten Frühjahrsmoden ansehen.«
Serafina hob resigniert die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ja, warum nicht. Das wäre sehr liebenswürdig von dir.« Sie schloss die Augen. Ihr bleiches Gesicht wirkte angespannt, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.
Vespasia stand auf und sagte, wobei sie Adriana fest ansah: »Ich denke, es ist besser, wenn wir Mrs. Montserrat die Gelegenheit geben, ein wenig zu ruhen. Sie scheint mir müde zu sein.«
»Aber natürlich«, stimmte Adriana zu, wenn auch mit erkennbarem Zögern. Dann sah sie Serafina an und sagte: »Ich komme bald wieder.«
Serafina gab darauf keine Antwort; sie schien eingeschlafen zu sein.
Vespasia folgte Adriana zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal zu Serafina um und sah, dass sie mit weit aufgerissenen Augen und allen Anzeichen des Entsetzens auf den Zügen im Bett lag. Offensichtlich war sie hellwach. Schon im nächsten Augenblick war ihr Gesicht wieder vollständig ausdruckslos.
Während Adriana hinaus auf den Treppenabsatz zu Miss Tucker trat,
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