Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Trauer legte sich auf ihre Züge. »Ja, das würde möglicherweise helfen«, stimmte sie zu. »Aber kommst du auch wieder? Ich …« Vor Verlegenheit konnte sie nicht weitersprechen.
»Aber natürlich«, beruhigte Vespasia sie. »Wir könnten uns über Dinge unterhalten, die dir am Herzen liegen. Das würde mich auch freuen. Es sind nur noch ganz wenige von uns übrig geblieben.«
Serafina nickte und ließ sich mit geschlossenen Augen wieder in die Kissen sinken. »Und Adriana«, flüsterte sie. »Kümmere dich an meiner Stelle um sie. Aber …« Sie schluckte und fuhr mit erstickter Stimme fort: »Aber vielleicht sollte ich sie nicht wiedersehen … Für den Fall, dass ich etwas sage …« Sie verstummte, offenbar außerstande, zu Ende zu formulieren, was sie hatte sagen wollen.
Vespasia blieb noch einige Minuten, doch Serafina schien in einen leichten Schlummer gesunken zu sein. So zog sie ihr das Laken über die dünnen Hände – alte Leute froren leicht – und verließ dann leise den Raum.
Am Fuß der Treppe teilte sie dem Dienstmädchen im Vestibül mit, sie wolle sich von Miss Freemarsh verabschieden.
Die junge Frau kam nach wenigen Augenblicken mit besorgter Miene.
»Ich danke Ihnen für Ihren Besuch bei Tante Serafina, Lady Vespasia«, sagte sie ein wenig steif. »Es tut mir leid, dass Sie sie so … so … anders erlebt haben als sonst. Es ist für uns alle bedrückend. Sicher ist Ihnen jetzt klar, dass es sich nicht um Schwarzmalerei gehandelt hat, als ich Ihnen sagte, dass sie deutlich schwächer geworden ist.«
»Sicher«, stimmte Vespasia zu. »Bedauerlicherweise geht es ihr erkennbar schlechter als noch vor wenigen Tagen. Angesichts dessen könnte es klug sein, dafür zu sorgen, dass deutlich weniger Besucher kommen. Ich habe ihr geraten, nur Menschen zu empfangen, die so jung sind, dass sie wenig oder nichts über das wissen, womit sie sich in früheren Jahren beschäftigt hat, denn das würde ihre Ängste vermindern. Die Anregung hat ihr gefallen. Natürlich wäre es, wie Sie selbst schon gesagt haben, äußerst betrüblich, wenn Menschen sie in ihrem jetzigen Zustand in Erinnerung behielten und nicht so, wie sie früher war. Ich an ihrer Stelle würde das jedenfalls vorziehen.«
Sie wusste nicht recht, wie sie Serafinas Bitte in Bezug auf Adriana formulieren sollte.
»Vielleicht könnten Sie Mrs. Blantyre freundlich bitten, auf den Besuch bei Ihrer Großtante zu verzichten, falls sie noch einmal kommt«, setzte sie an und sah sogleich die Verwirrung auf den Zügen der jungen Frau. »Wie Sie vermutlich wissen, stammt sie aus Kroatien, und das scheint in Ihrer Großtante ganz bestimmte Erinnerungen und Gedanken zu wecken«, fuhr sie fort. »Sie brauchen Mrs. Blantyre gegenüber ja keine Erklärungen abzugeben.«
Nerissa biss sich auf die Lippe. »Ich kann sie unmöglich bitten, nicht so oft zu kommen oder früher zu gehen. Sie ist eine alte Bekannte. Das wäre … ausgesprochen unhöflich. Eine solche Bitte würde sie nicht nur zwangsläufig kränken. Ich werde aber selbstverständlich nach Kräften dafür sorgen, dass Besucher nicht lange bleiben. Miss Tucker ist mir dabei schon eine große Hilfe, denn sie lässt meine Tante inzwischen in solchen Situationen nur selten allein. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Unterstützung.« Das klang endgültig. Offenkundig dachte sie nicht daran, Vespasias Empfehlung zu folgen.
»Falls es etwas gibt, rufen Sie mich bitte an.« Es blieb Vespasia nichts anderes übrig, als die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Als sie die Stufen zum Gehsteig hinabstieg, an dessen Rand ihre Kutsche wartete, war ihr Unbehagen in keiner Weise geschwunden. Ganz offensichtlich war es Serafinas Wunsch, Adriana nicht mehr zu sehen – aber was steckte dahinter? Sie hatte den Namen jener Frau mit einer Zärtlichkeit ausgesprochen, die tiefer ging als alles, was Vespasia je zuvor an ihr erlebt hatte, und Adriana hatte sich ehrlich um sie besorgt gezeigt. Hing das einfach damit zusammen, dass beide Exilantinnen waren, die ihre Heimat liebten, oder ging die Sache tiefer?
Als sie die Hälfte des Heimwegs zurückgelegt hatte, klopfte sie mit ihrem Stock an die Trennwand zum Kutscher. Er hielt an, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen, und sie bat ihn, einen Umweg zu machen, und nannte ihm Victor Narraways Adresse.
Er war nicht zu Hause, doch damit hatte sie mehr oder weniger gerechnet. Sie hinterließ eine schriftliche Mitteilung, in der sie ihn bat, sie so
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