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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Unwillkürlich lächelte er beim Gedanken daran. In der Erinnerung kam ihm alles glücklich und aufregend vor, obwohl er nicht vergessen hatte, dass er auch damals mitunter einsam gewesen war. Außerdem hatte er – bisweilen durchaus herbe – Fehlschläge erlitten.
    Inzwischen war Paris in seiner Erinnerung nichts weiter als eine anziehende Stadt, deren alte Viertel den Geist der Revolution atmeten. In seiner Jugend hatte er im Minoritenkloster gestanden, in dem Camille Desmoulins den Club des Cordeliers gegründet hatte, und sich mit geschlossenen Augen vorgestellt, er höre die Räder der Schinderkarren über das Kopfsteinpflaster rattern, könne die Angst der Menschen riechen und, wenn er die Augen öffnete, sogar den Geist Robespierres, des Riesen Danton und des rasenden Marat sehen. Die entfesselten Leidenschaften hatten die Luft erfüllt, als sei das Ganze erst am Tag zuvor geschehen.
    Damals hatte er sich leicht beeinflussen lassen, Menschen Glauben geschenkt, denen er besser misstraut hätte, insbesondere einer schönen Frau, Mireille. Für sie hatte er ein romantisch-einfältiges Mitleid empfunden, das an Liebe grenzte – ein Fehler, der ihn um ein Haar das Leben gekostet hätte. Danach war er nie wieder so töricht gewesen.
    Während er daran zurückdachte, fiel ihm ein, was Herbert, der damalige Leiter des Staatsschutzes, zu ihm gesagt hatte, und diese Erinnerung führte ihn auf die richtige Fährte. Jetzt wusste er, an wen er sich mit Vespasias Fragen wenden konnte.
    Am nächsten Morgen war er um halb acht am Bahnhof und stieg in einen Zug, der ihn in die unter dem trüben Himmel daliegende wellige Landschaft von Kent führte. Als er ihn in Bexley verließ und sich auf die Suche nach einer Droschke machte, fuhr ihm der kalte Wind in die Glieder.
    Um neun Uhr klopfte er an die Tür eines kleinen, alten Hauses nahe der Hauptstraße. Den größten Teil der Fassade überrankte eine Glyzinie, und er stellte sich vor, wie sie im Sommer voller blasslila Blüten sein würde. In den bitteren Geruch des Holzrauchs aus dem Kamin mischte sich eine Ahnung des vom Wind herbeigebrachten Regens.
    Eine Frau in mittleren Jahren, die eine Schürze über ihrem dunklen Kleid trug, öffnete ihm und sah ihn verblüfft an.
    »Guten Morgen, Sir.« Sie schien nicht recht zu wissen, was sie sagen sollte. Narraway ersparte ihr die Mühe und sagte: »Guten Morgen. Wohnt hier Geoffrey Herbert?«
    »Ja, Sir. Mr. Herbert frühstückt gerade. Wen darf ich ihm melden?« Zwar versagte sie sich den Hinweis darauf, dass sich ein – noch dazu unangekündigter – Besuch um diese frühe Stunde nicht gehörte, doch ließ sich der Vorwurf an ihren Augen ablesen.
    »Victor Narraway«, gab er zur Antwort. »Er weiß, wer ich bin.«
    »Mr. Victor Narraway«, wiederholte sie. »Draußen ist es kalt – kommen Sie doch bitte herein, Sir, und setzen Sie sich eine Weile ins Wohnzimmer. Ich melde Sie dann.« Erkennbar widerwillig öffnete sie die Tür ein Stück weiter.
    Er trat ins Haus. »Genaugenommen Lord Narraway.« Er hatte sich selbst noch nicht richtig an seinen neuen Titel gewöhnt, aber bei dieser Gelegenheit konnte ihm der damit verbundene Respekt nur von Nutzen sein.
    Sie schien verblüfft. »Ach! Nun … ich sage es ihm. Möchten Sie eine Tasse Tee, Sir, ich meine, Eure Lordschaft?«
    Unwillkürlich musste Narraway lächeln. »Das wäre mir sehr angenehm.«
    Das Wohnzimmer war genau so, wie es bei den kleinen Häusern auf dem Lande üblich war: Es hatte eine niedrige Decke, breite Fensterbänke und einen großen Kamin. Alles andere aber wich von diesem Muster ab. Bücherregale bedeckten eine ganze Wand, auf dem Boden lagen Perserteppiche mit exquisiten Mustern, und hier und da standen orientalische Messinggefäße. All das rief ihm deutlich in Erinnerung, dass es sich bei dem Hausherrn um einen Mann von breit gefächertem Wissen und erlesenem Geschmack handelte.
    Erst zwanzig Minuten später kam Herbert herein, als Narraway seinen Tee getrunken hatte und unruhig zu werden begann. Er hatte seinen ehemaligen Vorgesetzten seit fünfzehn Jahren nicht gesehen und war verblüfft über die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Er erinnerte sich an ihn als einen sich aufrecht haltenden, eher hageren, weißhaarigen Mann mit einer Stirnglatze. Jetzt stützte er sich auf zwei Stöcke und hatte offensichtlich Mühe zu gehen. Seine Kleidung hing ihm lose um die Glieder, und auf seinen Händen traten die Venen blau hervor. Sein auch früher

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