Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
dem Fall Mrs. Blantyre?«, fragte er verwirrt. »Die Frau kann doch höchstens vierzig sein. Ehrlich gesagt hätte ich sie sogar für jünger gehalten.«
»Genau deswegen kommt mir die Sache so seltsam vor. Serafina scheint sie für eine kroatische Patriotin zu halten, was nicht übermäßig weit von der Wirklichkeit entfernt ist, aber ihre Worte waren wirr. Während sie sprach, ging ihr Blick in die Ferne, und ihre Hände umklammerten das Laken. Nach Adrianas Weggang bin ich noch eine Weile geblieben. Wie mit einem Schlag war Serafina wieder sie selbst und ihre Angst zurückgekehrt.« Sie holte tief Luft. Wie immer saß sie aufrecht, und obwohl sich ihre Hände nicht regten, nahm er eine kaum erkennbare Veränderung an ihr wahr. »Sie hat Angst, jemand könnte sie umbringen, um zu verhindern, dass sie etwas preisgibt, was sie weiß. Sie hat von Verrat gesprochen, von altem Groll und von Toten, die nicht vergessen werden können, und das so, als gehe es um die Gegenwart und als müsse man mit noch mehr Gewalttaten rechnen. Sie hat auch Mayerling erwähnt.«
»Mayerling?«, fragte er ungläubig. »Aber sie hat doch wohl hier in London gelebt, als diese Geschichte passiert ist.«
»Aber sicher!«, gab sie bekümmert zurück. »Ist es denkbar, dass es für sie Grund zu Befürchtungen gibt?« Ihre Stimme wurde leise. »Etwas, was nichts mit Einsamkeit, Alter und … Überspanntheit zu tun hat?«
Er empfand tiefen Schmerz, der zu seiner Beschämung nicht Serafina Montserrat galt, sondern Vespasia und ihm selbst. Im nächsten Augenblick verwandelte sich dieses Gefühl in Mitleid.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Aber ich verspreche dir, dass ich der Sache gleich morgen nachgehen werde. Ich muss es nur unauffällig tun, damit sie nicht, für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie recht haben sollte, noch mehr Grund hat, sich zu ängstigen.«
Vespasia zögerte. »Es sollte mir leidtun, wenn ich mit meiner Bitte deine Zeit vergeude.«
Er tat das ab, weil er nicht wollte, dass sie sich ihm gegenüber verpflichtet fühlte. »Ich freue mich, etwas tun zu können, was meinen Geist mehr beansprucht als meine Geduld.« Das war die Wahrheit, und verblüfft merkte er, wie leicht es ihm fiel, das zu sagen. »Das gilt selbst für den Fall, dass sie, wie ich hoffe, keinen Grund hat, sich zu ängstigen.«
In dem Lächeln, das bei diesen Worten auf Vespasias Züge trat, lag teils Belustigung und teils Dankbarkeit. »Danke, Victor. Ich weiß es zu schätzen, dass du dich der Sache gleich annehmen willst. Und jetzt, da wir das hinter uns haben, möchtest du etwas zu essen?«
Er nahm die Einladung mit Freuden an. Es würde weit angenehmer sein, mit ihr zusammen zu essen als allein. Bevor er wegen der Geschichte in Irland mit Charlotte dorthin gefahren war, hätte er in einem Abendessen zu Hause ein friedvolles Ende des Tages gesehen, und die Vorstellung, dabei Gesellschaft zu haben, hätte ihn eher gestört. Er hätte es als angenehm empfunden, mit einem guten Buch in der Stille des Hauses allein zu sein. Jetzt aber empfand er beim bloßen Gedanken daran ein Gefühl der Leere, einer tiefen Einsamkeit, über die er nicht einfach hinweggehen konnte. Zweifellos würde dieser Zustand vorübergehen, doch im Augenblick spürte er, wie er sich in Vespasias stillem Salon nicht nur körperlich, sondern auch seelisch entspannte, und das tat ihm auf eine Weise wohl, die ihn beunruhigte.
Er dachte gründlich über Vespasias Sorge in all ihren Aspekten nach, als er nach Mitternacht in seinem behaglichen Sessel am Kamin saß, denn er konnte noch nicht schlafen. Fürchtete er, dass auch ihn im Schlaf Albträume heimsuchen könnten, hatte er Angst, verwirrt im Dunkeln aufzuwachen und einen Augenblick lang nicht zu wissen, wo er war? Womöglich sogar länger als nur einen Augenblick? Würde diese Zeit kommen? Wäre er dann allein, und würde man ihn bemitleiden? Würde sich womöglich niemand erinnern, wer er gewesen war?
Deutlicher, als er angenommen hatte, konnte er sich an seine jüngeren Jahre erinnern, die erste Zeit, die er im Staatsschutz verbracht hatte, lange bevor er an dessen Spitze getreten war. Damals hatte er alles von Grund auf lernen müssen, denn er war weit unerfahrener gewesen als Pitt bei seinem Eintritt in die Abteilung – immerhin hatte dieser schon über Jahrzehnte hinweg Erfahrung bei der Polizei gesammelt. Nach der Übertragung des Spitzenamtes hatte er Reisen in einige der begeisterndsten Städte Europas unternommen.
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