Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
schon weißes Haar war so spärlich, dass die Kopfhaut rötlich hindurchschimmerte.
»So, so, Lord Narraway?«, sagte er freundlich. Seine Stimme war greisenhaft, aber seine Augen leuchteten, und er erreichte den Sessel, ohne zu stolpern oder herumzutasten. Er setzte sich vorsichtig hin und lehnte die beiden Stöcke an die Wand. »Es muss ja etwas ganz Wichtiges sein, dass Sie sich hierherbemühen. Dawson hat mir gesagt, dass Sie nicht mehr beim Staatsschutz sind. Stimmt das?«
»Ja. Stattdessen drehe ich im Oberhaus Däumchen«, gab Narraway zurück. Er hörte, dass seine Worte bitter klangen, und bedauerte das sogleich. Er hoffte, dass Herbert das nicht für Selbstmitleid hielt, und überlegte, was er hinzufügen konnte, um der Sache die Spitze zu nehmen.
Herbert musterte ihn aufmerksam. »Wenn Sie nicht mehr dabei sind – was zum Teufel wollen Sie dann hier?«, fragte er. »Bestimmt sind Sie nicht gekommen, um alte Freunde zu besuchen, denn Sie haben keine. Sie waren schon immer ein Einzelgänger. Ist auch besser so. Als Leiter des Staatsschutzes kann man es sich nicht leisten, von anderen abhängig zu sein. Sie waren der beste Mann, den wir je hatten. Ich geb das nicht gern zu, aber es wäre gelogen, wenn ich etwas anderes sagte.«
Diese Worte freuten Narraway so sehr, dass es ihm sogleich peinlich wurde. Es war nie einfach gewesen, sich Herberts Wertschätzung zu verdienen, und daher war ein Lob aus dessen Mund viel wert.
»Was also wollen Sie?«, fuhr Herbert fort, bevor Narraway angemessene Worte des Dankes für das Kompliment hatte finden können. »Sie brauchen gar keine großen Erklärungen abzugeben, denn denen würde ich sowieso nicht glauben. Wenn Sie es sich leisten könnten, mir das Eigentliche mitzuteilen, wäre es wohl kaum der Mühe wert.«
»Österreich-Ungarn«, gab Narraway zurück.
Herberts spärliche Augenbrauen hoben sich.
»Großer Gott! Sie stochern etwa doch nicht nach wie vor in der Geschichte mit Mayerling und dem Tod des Erzherzogs Rudolf herum, oder? Ich hatte Sie für vernünftiger gehalten. Der arme Kerl hat erst die Frau erschossen und dann sich selbst. Von gelegentlichen Anfällen von Fröhlichkeit in Gesellschaft abgesehen, hatte er schon immer zur Schwermut geneigt. Bei Wein, Gelächter und in Anwesenheit eines hübschen Gesichts ging es ihm so lange gut, bis die Musik aufhörte zu spielen. In dieser Hinsicht war er genau wie seine Mutter, da konnte die Katastrophe gar nicht ausbleiben. Das hätte ich Ihnen schon vor Jahren sagen können.«
»Nein«, entgegnete Narraway knapp, »soweit ich weiß, geht es nicht um Rudolf.«
»Worum dann? Sie haben Österreich-Ungarn gesagt.«
»Die Sache liegt dreißig Jahre zurück, vielleicht sogar noch länger. Es geht um geplante oder tatsächliche Aufstände«, sagte Narraway.
»Davon hat es eine Menge gegeben.« Herbert nickte. »Franz Joseph war ein autokratischer alter Knochen. In jüngster Zeit soll er nicht mehr so schlimm sein, aber damals regierte er mit eiserner Faust. Er und sein Sohn Rudolf waren in jeder Hinsicht grundverschieden und in nichts einer Meinung. Aber was interessiert Sie an der Geschichte?« Mit gerunzelten Brauen beugte er sich ein wenig vor und sah Narraway aufmerksam an. »Wieso stochern Sie jetzt darin herum?«
»Ich hatte gedacht, Sie wollten mich nicht danach fragen«, gab Narraway süffisant zurück.
Herbert knurrte etwas Unverständliches. »Natürlich hat es Aufstände gegeben. Das wissen Sie ebenso gut wie jeder von uns. Reden Sie also nicht länger um die Sache herum, sondern sagen Sie mir, worauf Sie wirklich hinauswollen.«
»Es geht um eine größere Revolte, in die auch andere Länder einbezogen waren und die möglicherweise von Ungarn ausgegangen war.«
Ein verächtlicher Ausdruck trat auf Herberts hageres Gesicht. »Da hatte ich von Ihnen mehr erwartet, Narraway. Sie wissen ebenso gut wie ich, oder sollten es jedenfalls wissen, dass die Ungarn nicht unbedingt der Hahn auf dem Mist sein wollen und sich durchaus damit zufriedengeben, als zweitrangige Macht unter der Fuchtel Wiens behaglich und in Sicherheit zu leben. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass sie, wenn sie sich gegen die österreichische Herrschaft erheben würden, vieles einbüßen und nichts gewinnen würden.«
»Und was ist mit den Kroaten?«
»Bei denen sieht es schon anders aus«, stimmte Herbert zu. »Sie sind ein unberechenbares und unbeständiges Volk. Da gibt es immer wieder Verschwörungen und
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