Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
allem herumschnüffeln würde, was mir vor die Nase kommt. Alle Leute im Ort verabscheuen mich oder tun so, suchen mich aber ab und zu auf, weil sie glauben, dass ich die Geheimnisse sämtlicher Leute hier kenne.«
»Und kennen Sie sie?«, fragte Narraway.
»Die meisten.«
»Serafina«, erinnerte er ihn.
»Ja. Sie war so zäh und tüchtig wie die meisten Männer und besser als so mancher«, gab Herbert zurück. »Eigentlich keine Schönheit, aber das ist bei ihrer Vitalität gar nicht richtig aufgefallen. Sie war …« Er schien in seine Erinnerungen versunken zu sein. »Sie war wie ein Naturereignis«, schloss er.
Unwillkürlich fragte sich Narraway, wie gut Herbert sie gekannt haben mochte. Diese Möglichkeit war ihm vorher nicht in den Sinn gekommen. Erkundigte er sich da womöglich nach der Vergangenheit einer früheren Geliebten des Mannes, oder war das alles nichts als Einbildung und ein wenig Wunschdenken?
»Bisher haben Sie noch nichts erwähnt, was auf Umsicht hinweist«, gab er zu bedenken.
»Da haben Sie recht«, stimmte Herbert zu. »Sie hat den italienischen Unabhängigkeitskampf so rückhaltlos unterstützt, dass die meisten Leute annahmen, sie verhalte sich auch in jeder anderen Beziehung so offen. Das aber war nicht der Fall. Ich bin, ohne allerdings je Beweise dafür gefunden zu haben, zu dem Ergebnis gekommen, dass sie auch eine ganze Menge über diverse Pläne von Bulgaren und Kroaten wusste und sogar Verbindung zu frühen sozialistischen Bewegungen in Österreich selbst hatte. Davon bin ich sogar fest überzeugt, doch könnte ich, wie gesagt, nicht den geringsten Beweis dafür liefern.«
»Eine kluge Frau also«, sagte Narraway bewundernd. »Offenbar eine Meisterin der Geheimhaltung und der Täuschung.«
»Sie haben es erfasst«, erwiderte Herbert und beugte sich ein wenig vor, sodass sein Jackett noch faltiger wurde. »Sagen Sie mir, warum Sie sich dafür interessieren. Das ist doch alles Schnee von gestern. Es gibt nichts, wofür man sie unter Anklage stellen könnte und sollte – und falls Sie auf den Einfall kommen sollten, mich offiziell nach zu ihr fragen, würde ich alles abstreiten.«
Narraway lächelte und sah Herbert an, dessen schmale Wangen sich kaum wahrnehmbar röteten.
»Sie ist krank und verletzlich«, gab Narraway zurück und fragte sich, noch während er das sagte, ob es klug war, ihm das mitzuteilen. »Ich möchte dafür sorgen, dass sie nichts zu fürchten hat. Dazu muss ich wissen, aus welcher Richtung Angriffe gegen sie kommen könnten.«
Die Fröhlichkeit wich aus Herberts Zügen. »Angriffe?«, fragte er scharf.
»Ich bin nicht sicher, ob sie sich diese Bedrohung nur einbildet, deshalb muss ich Genaueres wissen.«
Herbert saß mehrere Minuten lang reglos da, ohne zu antworten, während er an Narraway vorbei hinaus in den vom Regen gepeitschten Garten sah. Narraway folgte seinem Blick, und sein Auge fiel auf zurückgeschnittene Rosen sowie die ersten prallen Knospen an den Bäumen. Als Herbert wieder in die Gegenwart zurückkehrte, war sein Blick umwölkt.
»Wie wenig ich doch über sie wusste«, sagte er leise. »Sie war ein ungeheuer leidenschaftliches Geschöpf, das mit Leib und Seele hinter allem stand, was sie tat. Ich nahm an, dass ich den Grund dafür kannte und wusste, auf welcher Seite sie stand, aber da das, was Sie jetzt wissen müssen, weit tiefer reicht, kann ich Ihnen lediglich Beobachtungen und Vermutungen anbieten, ohne zu wissen, ob etwas daran ist.«
»Sicher mehr als das wenige, was ich weiß«, gab Narraway zurück. »Stecken Ihrer Ansicht nach auch Taten hinter ihren Worten?«
»Zuerst hatte ich angenommen, es seien leere Worte gewesen«, sagte Herbert mit einer Ehrlichkeit, die ihn erkennbar schmerzte. »Dann aber bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass sie ein Mensch der Tat war, und diese Ansicht vertrete ich nach wie vor.«
»Was hat Sie zu dieser Änderung Ihrer Einschätzung bewogen?«
»Ein Fall von Verrat«, sagte Herbert leise. »Es ist sinnlos, mich nach den Hintergründen zu fragen, denn ich kenne sie nicht. Damals wusste ich lediglich, dass es um ein geplantes Attentat ging …«
Ein plötzlicher Schauer überlief Narraway. »Ein geplantes Attentat?«
Herbert sah ihn scharf an. »Großer Gott, das liegt Jahrzehnte zurück, und die Sache ist schiefgegangen. Den Anführer hat man gefasst, misshandelt, weil man Namen von ihm wissen wollte, und ihn, als er stumm blieb, an Ort und Stelle erschossen. Den meisten anderen
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