Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Gebiet Österreich-Ungarn tätig. Sie kannte viele Leute und hat ihre Gunst in bedauernswert freizügiger Weise verteilt.«
»Aber das liegt doch Jahre zurück«, hielt diesmal Narraway dagegen. Es überraschte ihn festzustellen, wie sehr er sich innerlich gegen die Unterstellung Tregarrons verwahrte. Zwar war er Serafina Montserrat nie begegnet, aber sie war Vespasias Freundin. Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr: »Ich nehme an, dass die meisten der betreffenden Männer tot sind, wie auch ihre Frauen, denen das möglicherweise nicht gleichgültig war.«
»Würde es Ihnen gefallen, wenn man über Ihren Vater so etwas sagte?«, fuhr ihn Tregarron an.
Narraway konnte sich die Situation nicht vorstellen. Sein Vater war ein hochintelligenter Mann gewesen, ein Mensch, der den Dingen des Alltags ferngestanden hatte, und nicht so beschaffen, dass er einer Frau, wie Narraway sich Serafina in der Vergangenheit vorstellte, etwas hätte abgewinnen können. Er lächelte bei der Vorstellung und sah in Tregarrons Gesicht Wut aufblitzen, die so rasch wieder verschwand, dass er nicht sicher war, ob er sich das nur eingebildet hatte.
»Belustigt Sie der Gedanke?«, fragte Tregarron. »Sie überraschen mich. Hätte es auch Ihre Mutter belustigt?«
Das war ein Tiefschlag, denn damit bezog sich Tregarron auf etwas, worüber Narraway auf keinen Fall reden wollte. »Selbstverständlich nicht«, sagte er, so ruhig er konnte, wobei seine Stimme angespannt klang, was ihm nicht recht war. »Ich habe es lediglich als belustigend empfunden, dass Ihre Worte so weit von dem entfernt waren, worum es mir geht. Soweit mir bekannt ist, ist der Ruf keines Menschen in Gefahr.«
»Womit hat es denn dann zu tun?«, fragte Tregarron mit ausdruckslosem Gesicht.
Narraway wählte seine Worte sorgfältig und überlegte, was Vespasia genau gesagt hatte. »Mit der politischen Freiheit von Völkern, mit alten und neueren Verschwörungen, bei denen es darum geht, in Kroatien und vor allem in Norditalien das österreichische Joch abzuschütteln. In diesem Zusammenhang muss man sogar mit einem Attentat rechnen.«
»Vielleicht verstehen Sie mich nicht richtig«, sagte Tregarron und lächelte jetzt seinerseits. »Die Frau ist bestimmt an die neunzig Jahre alt. Soweit ich gehört habe, war sie einst leichtsinnig und verwegen und eine Art Unruhestifterin. Man erzählt sich so manches über sie, was nicht unbedingt für sie spricht, auch wenn dies und jenes davon erfunden sein mag. Aber wenn nur die Hälfte von all dem stimmt, war sie auf jeden Fall eine leidenschaftliche italienische Nationalistin, die ein im höchsten Grade bewegtes Leben geführt hat. Sie wäre durchaus imstande gewesen, ein Attentat zu planen, und hätte wohl auch die erforderliche Entschlusskraft besessen, es durchzuführen. Doch ist ihr dergleichen, soweit ich weiß, nie gelungen.«
Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich leicht zurück, wobei er Narraway unausgesetzt ansah. »Ich habe nur von einem Ereignis gehört, das dem nahekam. Eine Gruppe von Menschen, die mit der österreichischen Herrschaft unzufrieden waren, soll sich damals zusammengeschlossen haben, um einen der in vorderster Linie stehenden Habsburger Herzöge zu ermorden, der in Norditalien mit besonderer Härte regierte – sein Name ist mir leider entfallen –, und beinahe wäre ihnen ihr Vorhaben gelungen. Der Plan war gut durchdacht und hätte sich leicht durchführen lassen.«
»Und trotzdem ist das Attentat fehlgeschlagen?«, fragte Narraway.
»Ja, weil eins der Gruppenmitglieder es verraten hat, sodass alle fliehen mussten. Montserrat gehörte zu denen, die sich am nachdrücklichsten darum bemüht haben, die Leute vor den Österreichern zu retten. Doch es gelang ihr nicht, da sie bei den Kampfhandlungen verwundet worden war. Den Rädelsführer hat man gefasst, im Schnellverfahren abgeurteilt und hingerichtet.«
Tregarron hielt inne. »Ich frage mich allerdings, was diese Dinge mit heutigen Ereignissen zu tun haben könnten. Ich kann nichts für Sie tun, wenn ich nicht weiß, was Sie wissen wollen – oder auch, warum.«
»Nach allem, was Sie gesagt haben, denke ich, dass es nichts mit heutigen Ereignissen zu tun hat«, log Narraway. »Wie Sie richtig bemerkt haben, ist die Frau längst deutlich betagt – immer vorausgesetzt, sie lebt überhaupt noch.« Er stand auf und deutete ein Lächeln an. »Vielen Dank dafür, dass Sie mir Ihre Zeit gewidmet haben – und auch für Ihre Offenheit.«
In
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