Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
Wahrheit dachte Narraway etwas ganz anderes, während er in einer Droschke durch die regennassen Straßen nach Hause zurückkehrte, wobei er von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Pflastersteine warf, die im Licht der Straßenlaternen glänzten.
Ihm war bewusst, dass ihm Tregarron nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ganz offensichtlich wollte der Mann etwas verbergen. Es gab etwas, was er fürchtete, doch wusste Narraway nicht, ob es sich dabei um eine Gefahr aus früheren Zeiten handelte, die erneut auftauchte, um einen Fehler, den er früher begangen hatte und der jetzt seinem Ruf oder seinen Beziehungen schaden konnte – oder ob es um etwas gänzlich anderes ging, wovon Narraway nichts wusste. Sofern es das Reich der Habsburger betraf, hätte ihm Tregarron möglicherweise nicht einmal die Wahrheit gesagt, wenn er noch Leiter des Staatsschutzes gewesen wäre, denn diplomatische Angelegenheiten fielen gewöhnlich nicht unter dessen Zuständigkeit.
Was ihm Sorgen machte, während seine Droschke durch das abendliche Dunkel ratterte, war der Gedanke, dass Mrs. Montserrats Einschätzung ihrer Vergangenheit keinesfalls übertrieben war. Sofern sie annahm, sie habe sich auf Dauer Feinde gemacht, hatte sie mit großer Wahrscheinlichkeit recht. Der Gedanke, dass eine einst so großartige Frau alt und hilflos im Bett lag und um ihr Leben fürchtete, im quälenden Bewusstsein, dass sie geistig zuweilen nicht mehr ganz zurechnungsfähig war und sich nicht einmal würde schützen können, peinigte ihn zutiefst.
Wurde er etwa weich? Hatte er seine Fähigkeit verloren, unvoreingenommen zu urteilen?
Vielleicht. Ganz sicher hatte er Vespasia gegenüber eine Zärtlichkeit empfunden, die er zuvor nie gekannt hatte: Er hatte in ihr nicht mehr nur ihren bemerkenswerten Mut und ihre große Klugheit gesehen, sondern auch ihre Fraulichkeit und Verletzlichkeit erkannt.
Es war eine beängstigende Veränderung, die da mit ihm vor sich gegangen war, und er musste sich unbedingt wieder mehr auf die Fakten konzentrieren.
Er beschloss, sehr viel mehr über die Donaumonarchie in Erfahrung zu bringen, insbesondere, was den despotischen Kaiser Franz Joseph anging, dessen einziger Sohn, Erzherzog Rudolf, im Jagdschloss Mayerling unter so tragischen Umständen ums Leben gekommen war.
Dass sein Neffe, Erzherzog Franz Ferdinand, der neue Thronfolger war, sagte dem Kaiser in keiner Weise zu. Er hatte Zweifel an dessen Urteilskraft, weil dieser aus Liebe eine Gräfin oder dergleichen geheiratet hatte, statt eine standesgemäße Gattin aus königlichem Geblüt zu wählen, wie es sich gehört hätte. Aus dem gleichen Grund war Franz Joseph nicht davon überzeugt, dass Ferdinand wirklich bereit war, die Pflichten zu erfüllen, die sein künftiges Amt für ihn mit sich brächte. Doch konnte er nichts gegen die Erbfolge unternehmen, ohne die Legitimität der gesamten Habsburgermonarchie zu gefährden.
Narraway überlegte, ob er Vespasia das wenige mitteilen sollte, was er in Erfahrung gebracht hatte, damit sie wusste, dass Mrs. Montserrat sich in Bezug auf ihre Vergangenheit keineswegs Fantasien hingab. Damit würde er der alten Frau einen Gefallen tun, weil sie merkte, dass ihr zumindest ein Mensch Glauben schenkte. Ja, er würde es Vespasia bei nächster Gelegenheit mitteilen. Es war ein guter Grund, sie wieder aufzusuchen.
KAPITEL 5
Der erste März war ein heller, windiger Tag und winterlich kalt. Mit finsterer Miene und steifen Schultern trat Stoker in Pitts Büro und blieb vor dessen Schreibtisch stehen.
Pitt wartete, bis sein Mitarbeiter zu sprechen begann.
»Inzwischen haben wir weitere Informationen bekommen, die darauf hindeuten, dass tatsächlich ein Anschlag geplant ist.« Stoker fühlte sich offensichtlich unbehaglich. »Außerdem glauben wir ziemlich sicher zu wissen, wer der Mann ist, der sich in der Nähe von Dover nach den Eisenbahnsignalen erkundigt hat. Wir haben auch eine ungefähre Vorstellung davon, wer einer von denen gewesen sein könnte, die etwas über das Weichenstellen wissen wollten. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um den aus Dover handelt, der sich verkleidet hat. Ganz sicher sind wir da allerdings nicht.«
»Wer also?«, fragte Pitt.
»Bilinski dürfte der sein, der sich nach den Signalen erkundigt hat. Die Franzosen, die ihn im Zusammenhang mit einem Attentat in Paris längere Zeit im Visier hatten, wissen, mit wem sie es da zu tun haben. Überdies hat man ihn mindestens einmal zusammen mit Lansing gesehen
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