Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
zurück. »Vielleicht spielt er auch nur den verträumten Wissenschaftler und ist in Wirklichkeit ein wackerer Mann, der eine wichtige Aufgabe zu erledigen hat.«
»Von mir aus«, räumte Stoker zögerlich ein. »An die Möglichkeit hatte ich bis jetzt nicht gedacht, aber ich werde sie im Auge behalten.«
»Und wer begleitet ihn?«, wiederholte Pitt. »Wie viele Mitglieder seines Gefolges sind in Wahrheit Leibwächter oder dergleichen?«
Stoker seufzte. »Das entzieht sich meiner Kenntnis. Soweit man uns gesagt hat, sollen das in erster Linie Bediente sein: ein Kammerdiener, ein Butler und dergleichen – lauter Leute, die vermutlich ein Stilett nicht von einem Schürhaken unterscheiden können.« Er zwinkerte missbilligend. »Auf jeden Fall sind wir für den Schutz des Mannes verantwortlich, wen auch immer er mitbringen mag. Wenn man den irgendwo hier in England umbringen würde, wäre das für uns ausgesprochen unangenehm, weil dann bestimmt irgendein Mistkerl herkommt und uns die Schuld daran in die Schuhe schiebt – ganz davon zu schweigen, wie viele unserer eigenen Leute dabei mit umkommen oder zu Krüppeln gemacht werden könnten.«
»Ich weiß«, erwiderte Pitt. Er dachte an Blantyres Hinweis. »Das könnte unter Umständen sogar der Zweck des ganzen Unternehmens sein. Womöglich ist der arme Herzog Alois in diesem Zusammenhang nichts als ein Vorwand.«
Stoker wurde käsebleich im Gesicht. Er sagte etwas Unverständliches, war aber nicht bereit, es laut zu wiederholen, als Pitt zu ihm aufsah.
Zwar kostete es Pitt Überwindung, erneut das Außenministerium aufzusuchen, doch ihm blieb keine Wahl. Wie bei den vorigen Malen verwies man ihn zuerst an Jack Radley. Sie standen einander im ebenso luxuriös wie unpersönlich eingerichteten Warteraum gegenüber, an dessen Wänden die Porträts früherer Minister hingen.
»Hoffentlich bist du heute in einer anderen Angelegenheit hier«, sagte Jack. Dabei verlagerte er das Gewicht leicht von einem Fuß auf den anderen, als könne er auf diese Weise besser mit unangenehmen Dingen fertigwerden.
»Es hat mit neuen Erkenntnissen und Auffälligkeiten zu tun«, gab Pitt zurück. Auch er war angespannt – einerseits wegen der Verantwortung, die ihm seine Position auferlegte, zum anderen aber auch wegen ihrer persönlichen Beziehung. Ihm war bewusst, wie tief es Charlotte treffen würde, wenn diese Situation einen Keil zwischen sie und ihre Schwester Emily triebe. Sollte es so weit kommen, dass er und Jack in feindlichen Lagern standen, würde das alles überschatten.
Jacks Gesichtszüge verhärteten sich, und er zog die Mundwinkel herunter.
»Inzwischen sind mir deutlich mehr Informationen über die Möglichkeit eines Attentats auf ein Mitglied der Habsburgerdynastie zur Kenntnis gekommen«, begann Pitt. »Herzog Alois ist weitläufig mit unserer Königin verwandt oder verschwägert, und man braucht nicht im Außenministerium zu arbeiten, um sich den Schaden für den Ruf unseres Landes in Europa und der übrigen Welt auszumalen, der entstehen würde, wenn man ihn ausgerechnet ermorden würde, wenn er unsere stolze Hauptstadt besucht – findest du nicht auch?«
Er hatte das in sarkastischerem Ton gesagt als beabsichtigt, was mit seiner Befürchtung zusammenhängen mochte, dass ein solcher Vorfall nicht auszuschließen war.
»Derlei dürfte auch Lord Tregarron kaum gleichgültig lassen. Daher nehme ich an, dass er jetzt seine Haltung in dieser Frage ändert«, fügte er hinzu.
Jack, der sichtlich erbleicht war, sah ihn schweigend an. Einige Sekunden lang überdachte er die Situation.
»Bist du sicher, dass du dir da keine überflüssigen Sorgen machst?«, fragte er.
»Jack, es ist meine Aufgabe vorauszudenken. Wenn du meinst, dass ich damit nur die Pferde scheu mache, lass dir sagen, dass das nicht der Fall ist. Ich denke, die Zahl der Hinweise, über die wir inzwischen verfügen, reicht aus, um die Bedrohung ernst zu nehmen. Wenn du mich fragst, ob das Ganze nur ein Täuschungsmanöver ist und man auf diese Weise den Staatsschutz durch künstlich geschürte Furcht von einer anderen wichtigeren Sache ablenken will, muss ich sagen, dass ich das nicht wissen kann. Die Frage ist, ob Tregarron bereit ist, das Risiko einzugehen, dass bei einem Eisenbahnunglück ein Angehöriger der Habsburgerdynastie zusammen mit ein paar Dutzend Briten umkommt. In dem Fall sollte man wohl besser jemanden an seine Stelle setzen, der etwas weniger großzügig mit dem Ruf unseres Landes
Weitere Kostenlose Bücher