Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
…«
»Doch nicht etwa mit unserem Lansing?«, fragte Pitt scharf.
Stokers Züge spannten sich an. »Doch, Sir. Das ist ja das Besorgniserregende an der Sache. Wir waren der Ansicht, dass er in Frankreich in Haft sitzt, aber offenbar ist das nicht mehr der Fall.«
Mit einem Mal überlief es Pitt eiskalt. Lansing war Engländer, ein eiskalter, berechnender Mann, der sich – soweit man wusste – keiner Sache und niemandem verpflichtet fühlte. Im Augenblick war die Frage unerheblich, warum die Franzosen ihn aus der Haft entlassen hatten – darum würde er sich später kümmern. Möglicherweise hing das mit Verfahrensfragen zusammen. Ein guter Anwalt fand oft einen Formfehler, und falls Lansing selbst nicht bereit oder in der Lage war, einen solchen Anwalt zu bezahlen, hatte das womöglich jemand für ihn getan, was die Sache alles andere als besser machte.
Pitt hob den Blick zu Stoker und erkannte in dessen Augen, dass dieser ähnliche Gedankengänge hatte. »Und er hat sich also nach Weichen und Güterzügen erkundigt?«
»Ja, Sir. Es heißt, dass er sich im Transportwesen auskennt, ganz besonders bei der Eisenbahn. Er weiß, wie Signale funktionieren, wie man Weichen stellt, Waggons voneinander abkoppelt und dergleichen mehr. Es ist also genau so, wie Mr. Blantyre gesagt hat.«
»Sonst noch jemand?«
»Bisher nicht, aber wir gehen der Sache weiter nach.«
»Und gibt es etwas Neues über diesen Herzog Alois von Habsburg?«
»Nein. Mir will ehrlich gesagt auch nicht in den Kopf, warum jemand den würde umbringen wollen«, erklärte Stoker.
»Nun, immerhin könnte man damit unser Land und insbesondere den Staatsschutz in große Verlegenheit bringen«, gab Pitt zurück.
Stoker nickte. »Ja, so sieht es aus. Viele Leute haben was gegen uns, da nützt es uns auch nichts, dass die Königin seit der Geschichte in Osborne House große Stücke auf Sie hält, denn die meisten Leute ahnen nichts davon und werden es auch nie erfahren.«
»Als ob ich das nicht wüsste.« Pitt schob die Hände tiefer in die Taschen. Seine Schultern spannten sich an. »Es gibt ziemlich viele, die in der Macht unserer Abteilung eine Bedrohung ihrer Bewegungsfreiheit und ihrer Ruhe sehen. Vor einigen Jahrzehnten hat man der Polizei genauso gegenübergestanden.«
»Was für Dummköpfe«, stieß Stoker durch die Zähne hervor. »Sobald irgendwo eingebrochen wird, wenn es Aufruhr oder eine Entführung gibt, rufen sie nach der Polizei. Uns geht es in dieser Beziehung wie dem Militär: Wenn es Krieg gibt, ist für uns nichts gut genug, aber kaum ist er vorbei, sollen wir uns möglichst unsichtbar machen – bis zum nächsten Mal.« Auf seinem Gesicht mischten sich Verachtung und Verbitterung.
Pitt empfand den gleichen Zorn wie sein Mitarbeiter und gab ihm innerlich recht, schwieg aber dazu.
»Am besten nehmen wir die Sache ernst«, sagte er stattdessen. »Was wissen wir über Alois von Habsburg? Mit welchem Gefolge wird er reisen? Ich pfeife darauf, ob wir ihn in seiner Privatsphäre stören müssen oder nicht, um das in Erfahrung zu bringen!«
Stoker machte eine säuerliche Miene. »Es ist schwer, über ihn mehr als das Übliche zu erfahren – Sie wissen schon: wo er geboren wurde, wer seine Eltern sind, sein Platz in der Thronfolge. Da steht er übrigens ganz weit hinten«, gab Stoker zurück. »Er ist kein Politiker, sondern eher ein Grübler, der sich ein wenig mit Naturwissenschaften beschäftigt. Ein kluger Bursche, aber ein Träumer, soweit man hört. Möglicherweise erfindet er eines Tages etwas Großartiges, was aber vermutlich ohne jeden Gebrauchswert sein dürfte. Oder er schreibt ein paar Bücher über das Wesen der Identität oder dergleichen. Jedenfalls sagen Menschen das, die ihn gut kennen. Er hat nie im Leben etwas Bedeutendes geleistet.«
»Ist er mit unserer Königin wirklich verwandt?«, fuhr Pitt fort.
»Verschwägert, und das auch nur um mehrere Ecken – wie die Adelshäuser in halb Europa.« Sein Zorn schien sich nach wie vor nicht abgekühlt zu haben. »Möglicherweise kann sie ihn gut leiden, auch wenn ich das nicht so recht glaube. Er ist zwar ein netter Kerl, aber sie hat es nicht so mit den Denkern.« Er unterbrach sich, und eine leichte Röte trat auf seine Wangen. Ihm war aufgegangen, dass er seine Einschätzung etwas zu unverblümt geäußert hatte.
»Andererseits ist es natürlich auch möglich, dass er Eindruck schinden will und Lust auf eine Reise nach London hat«, gab Pitt mit leichtem Lächeln
Weitere Kostenlose Bücher