Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
dass jeder, der eine solche Absicht verfolgt, im eigenen Lande jederzeit reichlich Gelegenheit dazu hätte, und zwar so, dass dabei keine unschuldigen Fahrgäste eines ganzen Zuges geopfert werden müssten. Was veranlasst Sie also zu der Annahme, jemand könne derlei planen?« Er sah Pitt mit fragend gehobenen Brauen an.
Pitt schluckte. Er war überzeugt, dass der Mann diesen Ton Narraway gegenüber nicht angeschlagen hätte. Doch er schob den Gedanken von sich, weil ihn dieser lediglich daran hindern würde, mit Tregarron auf vertrauensvoller Grundlage zusammenzuarbeiten. Auf keinen Fall durfte er sich davon lähmen lassen. Ihm war bewusst, dass er Schwächen hatte, die Narraway nicht besaß, aber er hatte auch Stärken aufzuweisen.
Er setzte sich ein wenig bequemer hin und schlug die Beine übereinander.
»Wenn ich diese Fragen beantworten könnte, Sir, brauchte ich Sie um nicht mehr als eine Bestätigung zu bitten, und auch das möglicherweise lediglich aus Höflichkeit. Herzog Alois scheint ein angenehmer junger Mann zu sein, über den sich nichts weiter sagen lässt, als dass er in einer gewissen Beziehung zum österreichischen Herrscherhaus steht. Das allerdings bedeutet nicht zwangsläufig, dass er unbedeutend wäre, denn bisweilen dienen solche Menschen anderen als Spielfiguren oder auch als Faustpfand.«
Ein Schatten legte sich auf Tregarrons Gesicht, doch er ließ Pitt fortfahren.
»Ich halte es also für wahrscheinlich, dass man ihn nicht um seiner selbst willen als Ziel ausersehen hat, sondern weil er zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sein wird«, fuhr Pitt fort. »Sollte er während seines Aufenthaltes hier in England umkommen, würde das die Regierung Ihrer Majestät in die größte Verlegenheit bringen. Bekanntlich gibt es immer Menschen, die ihren Vorteil aus einer solchen Situation zu ziehen verstehen …«
»Sie meinen, in Österreich?«, fragte Tregarron, nach wie vor unverhüllt ungläubig.
»Nichts weist auf einen österreichischen Hintergrund hin«, erklärte Pitt und sah tief befriedigt die Überraschung in Tregarrons Augen. Ganz offensichtlich war dem Mann der Gedanke noch nicht gekommen, den er ihm jetzt vorzutragen beabsichtigte. »Dahinter könnten Deutsche, Franzosen, Italiener oder sogar Russen stecken«, fügte er hinzu. »Die Macht unseres Landes bringt es mit sich, dass wir viele Feinde haben.«
Tregarron beugte sich leicht vor. Jetzt war seine ganze Haltung verändert. »Einzelheiten, Pitt, Fakten. Die Stellung unseres Landes in Europa und der Welt ist mir voll und ganz bewusst. Das meiste von dem, was Sie sagen, war schon immer so. Warum also gerade jetzt? Warum gerade diesen jungen Mann? Beschränken Sie sich darauf, mir die genauen Tatsachen und Beobachtungen mitzuteilen, die Sie in Erfahrung gebracht haben, und überlassen Sie das Urteil darüber mir.«
Pitt schwieg. Seine Gedanken jagten sich. Die Arroganz des Mannes war ungeheuerlich. Er behandelte ihn, den Leiter des Staatsschutzes, als sei er ein x-beliebiger Streifenpolizist, ein Mann, dem er nicht zutraute, größere Zusammenhänge zu erkennen. Sicher hätte Narraway dem Mann eine so vernichtende Antwort gegeben, dass dieser es nie wieder gewagt hätte, ihn auf diese Weise herunterzuputzen.
Doch die Worte, die Haltung und auch das Selbstvertrauen dafür fehlten Pitt, und falls er sich weigerte, Tregarron Einzelheiten mitzuteilen, würde dieser daraus den Schluss ziehen, er habe keine. Fast hätte er sarkastisch angeboten, alle rangniederen Mitarbeiter des Staatsschutzes sollten ihre schriftlichen Berichte an Tregarron richten, doch das wagte er nicht. Es würde ihm unmöglich sein, seine Aufgabe auszuführen, wenn er sich den Mann offen zum Feinde machte.
So gab er zurück, wobei er fast an seinen eigenen Worten erstickt wäre: »Wie viele Einzelheiten möchten Sie wissen, Sir? Bei uns laufen aus Quellen im ganzen Land regelmäßig Informationen ein. Wir stehen speziell im Zusammenhang mit diesem Fall mit Deutschland, Frankreich und Österreich in Verbindung, und das nicht nur über unsere eigenen Leute, sondern auch in gewissem Umfang über Kontakte in Organisationen der meisten Länder Europas, die das Gegenstück zu unserem Staatsschutz bilden.« Ein aufmerksamer Blick auf Tregarrons Gesicht zeigte ihm einen Anflug von Besorgnis, der jedoch sogleich wieder verflog. Möglicherweise war dem Mann unversehens aufgegangen, dass Pitt nicht lediglich wilde Gerüchte auf eigene Faust gedeutet hatte,
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