Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
treten und in den Konflikt eingreifen. Bevor sich etwas gegen diese Lawine unternehmen ließe, würde ein Krieg toben, wie ihn die Menschheit noch nie zuvor erlebt hat.«
»Niemand bei klarem Verstand würde aber doch …«, begann Pitt und verstummte.
»Sie sagen es: niemand bei klarem Verstand«, nahm ihm Blantyre leise das Wort aus dem Mund. »Niemand, der vernünftig und kenntnisreich genug ist zu erfassen, wohin das führen würde. Wie viele vernünftige nationalistische Revolutionäre kennen Sie? Wie viele Sprengstoffattentäter und Mordbuben, denen es gegeben ist, sich eine Zukunft von mehr als ein paar Tagen vorzustellen, geschweige denn eine solche, die ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahrzehnt dauert?«
»Keinen«, sagte Pitt fast im Flüsterton. »Großer Gott, was für eine entsetzliche Geschichte.«
»Wir müssen das unbedingt verhindern«, gab Blantyre zurück. »Unter Umständen hat sich unser Staatsschutz nie einer wichtigeren Aufgabe gegenübergesehen. Ich stehe Ihnen zu jeder Tages- oder Nachtstunde mit all meinen Möglichkeiten zur Verfügung.«
Pitt sah mit hochgezogenen Schultern auf den Tisch, seine Gesichts- und Nackenmuskeln schmerzten.
»Ich danke Ihnen.«
KAPITEL 6
Als Lady Vespasia am frühen Nachmittag des vierten März das Haus verließ, war es nach wie vor ziemlich kalt. Auf den erneuten Besuch bei Serafina freute sie sich in keiner Weise, im Gegenteil betrübte es sie zutiefst, sie in einem solchen Zustand der Verwirrung zu sehen, und die unübersehbare Angst der alten Weggefährtin schmerzte sie. Doch war es kein Zeichen von Freundschaft, Menschen fallen zu lassen, weil ihre Gesellschaft nicht mehr so angenehm war wie in früheren Jahren.
Während ihre Kutsche durch die altvertrauten Straßen fuhr, sah Vespasia, wie ein heftiger Windstoß die Röcke einer Frau blähte und sie fast umriss, sodass sie sich fest an den Arm ihres Begleiters klammern musste. Hundert Schritte weiter hielt ein in Grau gekleideter Mann seinen Hut mit beiden Händen fest, damit dieser nicht davongeweht wurde.
Die Kutsche wurde langsamer, und mit einem Mal verstummte der Hufschlag der Pferde auf dem Pflaster, obwohl die Kutsche noch rollte. Vespasia begriff sofort, was das zu bedeuten hatte: Sie fuhren über Sägemehl, das man auf die Straße gestreut hatte, um die Geräusche zu dämpfen. Mithin befanden sie sich vor dem Haus eines kürzlich Verstorbenen. Die Kutsche blieb stehen, und der Kutscher öffnete den Schlag.
»Mylady …«, sagte er zögernd.
»Ja«, erklärte sie, ohne zu zeigen, dass kaltes Entsetzen sie erfasst hatte. »Mir ist klar, was geschehen ist. Trotzdem werde ich hineingehen. Bitte warten Sie hier. Ich denke nicht, dass ich lange bleiben werde.«
»Sehr wohl, Mylady.« Er hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.
Sie schritt über das Sägemehl zum Gehweg und stieg die Stufen zur Haustür empor. Die Vorhänge waren zugezogen. Ihr dunkelblaues Kleid war der Situation nicht angemessen, von der sie allerdings nichts hatte wissen können. Andernfalls wäre sie in Schwarz gekommen. Sie klopfte und wollte das gerade ein zweites Mal tun, als Nerissa Freemarsh öffnete. Ihr sonst angespanntes und ein wenig blutleeres Gesicht wirkte bleich wie unter Schock. Ihre Augen waren rot gerändert und ihre Lider geschwollen. Sie holte Luft, um zu sprechen, stieß sie dann aber wieder aus, ohne ein Wort herauszubringen. Es sah so aus, als werde sie im nächsten Augenblick zusammenbrechen.
Lady Vespasia unterdrückte ihre eigenen Empfindungen, fasste sie am Arm, führte sie freundlich ins Haus und schloss die Tür. Dann wandte sie sich ihr zu und sagte: »Ich sehe, was geschehen ist. Mein aufrichtiges Beileid. Es ist jedes Mal ein Schock, ganz gleich, wie gut man darauf vorbereitet zu sein glaubt. Auch ich hatte offen gestanden nicht angenommen, dass es so bald sein würde, sonst wäre ich nicht zu einem so unpassenden Zeitpunkt hier aufgetaucht, denn mir ist klar, dass ich störe.«
»Aber nein …«, brachte die Großnichte heraus, »nicht im Geringsten. Es ist sehr freundlich von Ihnen … zu kommen …« Sie schluckte.
Lady Vespasia empfand tiefes Mitleid mit ihr. Nerissa Freemarsh war eine nicht sonderlich anziehende junge Frau. Zwar sah sie durchaus gut aus, besaß aber keinerlei Ausstrahlung. Jetzt hatte sie möglicherweise die einzige Verwandte verloren, die ihr geblieben war. Selbst wenn ihr diese das Haus hinterlassen haben sollte, würde ihr das mit
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