Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
denn Österreich hält im Norden italienisches Gebiet besetzt, darunter einige der wichtigsten Städte. Das eigentliche Pulverfass aber bilden Länder wie Serbien, Kroatien, Montenegro und die anderen Anrainer der Adria. So klein sie sind, sie könnten ganz Europa mit in den Abgrund reißen, wenn es dort zur Explosion kommt.«
Seine Hände verkrampften sich leicht. »Doch noch bedeutsamer ist, dass im Osten der unruhige, riesige russische Bär liegt. Dies dem Slawentum wie dem orthodoxen Glauben gleichermaßen verbundene Reich regiert ein Zar von Moskau aus, der nicht die geringste Vorstellung von dem hat, was seinem Volk am Herzen liegt, von anderen Völkern ganz zu schweigen. Überdies mangelt es ihm an geistigen Fähigkeiten, sodass er nicht einmal dann etwas in der Richtung unternehmen würde, wenn er es wüsste.«
Ein Kältegefühl beschlich Pitt. Er begann zu ahnen, worauf Blantyre hinauswollte.
»In der Mitte von alldem also liegt das Habsburgerreich.« Blantyre machte eine kaum wahrnehmbare Bewegung, als ruhe seine Hand auf einer Landkarte und nicht auf dem weißleinenen Tischtuch. »Seine Völker sprechen ein rundes Dutzend verschiedener Sprachen und gehören den unterschiedlichsten Glaubensgemeinschaften an: Es sind Katholiken, Orthodoxe, Moslems und Juden. Auch wenn unbestreitbar ein hässlicher Antisemitismus sein Haupt immer offener erhebt, herrscht im Allgemeinen doch Toleranz. Dank der alten und ausgesprochen intellektuell geprägten Kultur des Landes hat man es lange verstanden, die Zügel der Macht einerseits so fest in Händen zu halten, dass das Reich regierbar bleibt, und es auf der anderen so leicht zu führen, dass dem Individualismus Raum zum Atmen bleibt.«
Er sah Pitt an, um dessen Reaktion zu erkennen.
»Das neu erstarkte Deutsche Reich kann vor Kraft kaum gehen. Es ist gefährlich und zeigt immer mehr Unruhe. Darauf haben wir lange nicht hinreichend geachtet. Die jungen Löwen dort warten nur darauf, den alten an die Gurgel zu springen. Aber selbst das spielt nur am Rande eine Rolle. Österreich ist das Herz des Ganzen, der Ort, an dem alle unterschiedlichen Interessen zusammenlaufen. Wenn man es herausnähme, hätte Europa keinen neutralen Kern mehr. Dann würden nicht nur teutonische und slawische Völker einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, dann hätten auch Protestanten, Katholiken, Moslems und Juden kein Forum mehr, wo sie ungezwungen miteinander verkehren könnten. Wenn es dahin käme, wäre Schluss mit der einen Kultur für alle, an der jeder von ihnen teilhaben kann.«
Pitt erkannte die unwiderlegliche Logik in Blantyres Worten.
»Aber welchen Sinn sollte es haben, einen unbedeutenden Angehörigen der österreichischen Herrscherfamilie zu töten – noch dazu hier in England?«, fragte er.
Mit angespanntem Gesicht und traurigen Augen lächelte Blantyre, während er mit trübselig klingender Stimme sagte: »Die Identität des Opfers ist Nebensache. Es ist unerheblich, um wen es sich handelt. Jeder andere würde sich genauso gut dafür eignen. Wenn man ihn in seiner Heimat ermordete, wäre es den dortigen Behörden vielleicht möglich, die Sache zu vertuschen und als grässlichen Unfall hinzustellen. Hier in England hingegen, dem Land mit einem der besten Geheimdienste Europas, haben sie keinerlei Einfluss, weshalb sich hier ein solcher Vorfall nicht einfach unter den Teppich kehren ließe. Noch günstiger für die Drahtzieher ist aber die Möglichkeit, hier ohne den Hauch eines Zweifels zu ›beweisen‹, dass der Täter, wen auch immer man fasst, Kroate ist. In dem Fall wird Österreich keine Wahl bleiben, als ihn vor Gericht zu stellen und hinzurichten, seine Komplizen aufzuspüren und sie ebenso zu behandeln. Verstehen Sie?«
Pitt begann das Muster zu erkennen, und es entsetzte ihn.
Blantyre nickte bedächtig. »Ich sehe, Sie haben verstanden. Von dem Augenblick an befänden sich Österreich und Kroatien im Kriegszustand. Als slawisch geprägtes Land würde sich Kroatien selbstverständlich an seinen mächtigen russischen Vetter wenden, der sich auch unaufgefordert auf die Seite des angegriffenen Landes schlagen würde. Auch wenn Bismarck erklärt hat, er sehe keinen Grund, warum ›die elegante, seetüchtige Fregatte Preußens an das unansehnliche, leckgeschlagene austriakische Schlachtschiff gefesselt werden sollte‹, würde gleich darauf das Deutsche Reich an die Seite des von der deutschen Sprache und deutschen Kultur durchdrungenen Österreich
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