Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
zurück. Fünf Minuten später kam Nerissa wieder. »Danke«, sagte sie voll aufrichtiger Empfindung. »Es war sehr freundlich von Ihnen zu kommen.« Sie setzte sich und verkrampfte die Hände im Schoß, sodass die Knöchel weiß hervortraten. »Es … es kommt einem nicht ganz so schlimm vor, wenn man etwas zu tun hat.«
»So ist es«, gab ihr Vespasia recht. »Soweit ich von Mrs. Whiteside gehört habe, ist Serafina in der Nacht gestorben, und Sie haben das heute Morgen entdeckt. Es muss für Sie äußerst belastend gewesen sein, zumal es so unerwartet und so bald geschehen ist.«
»Ja. Ja, wir hatten angenommen … es würde noch … Wochen … oder Monate dauern«, stimmte Nerissa zu.
»Wir? Sie meinen, Sie und der Arzt Ihrer Großtante?«
»Ja … ich … natürlich haben wir nach ihm geschickt, Mrs. Whiteside und ich. Er ist beinahe sofort gekommen. Leider konnte er nichts mehr tun. Es hat den Anschein, dass sie … ziemlich früh … in der Nacht gestorben ist.« Sie sprach abgehackt und rang nach Luft.
Vespasia betrachtete die junge Frau ihr gegenüber, die tief unglücklich, angespannt und vielleicht sogar voll Schuldbewusstsein dasaß, weil sie nicht in der letzten Stunde der Kranken bei ihr gewesen war. Diese Haltung war durchaus verständlich, wenn auch nicht vernünftig. Sie hätte nicht das Allergeringste tun können, außer möglicherweise Serafina das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein war. Aber ebenso war es möglich, dass Serafina im Schlaf gestorben war und ohnehin nichts davon mitbekommen hätte.
Oder hatte die junge Frau ein schlechtes Gewissen, weil sie sich jetzt von einer Bürde befreit fühlte, die einen großen Teil ihrer Zeit in Anspruch genommen und ihre Kräfte ausgelaugt hatte? Bestimmt war es für sie eine Erleichterung, nun von diesen Pflichten entbunden zu sein, selbst wenn sie selbige bereitwillig auf sich genommen hatte. Welche Zukunft wohl vor ihr liegen mochte? Sofern sie außer diesem äußerst großzügigen Haus noch einen ansehnlichen Geldbetrag erbte, würde es ihr an Bewerbern um ihre Hand nicht fehlen. Der Himmel mochte geben, dass sie nicht einen von denen erhörte, denen mehr an ihrem Besitz lag als an ihr selbst.
Vespasia lächelte trübselig. »Die Begegnung mit dem Tod ist immer schmerzlich. Sie erinnert uns an Dinge, die aus unserem Alltagsleben herauszuhalten wir nur allzu gut gelernt haben. Sie sind nicht allein, und Sie sollten sich auch nicht allein fühlen. Bestimmt hat Ihnen der Arzt schon versichert, dass es nicht in Ihrer Macht gestanden hätte, etwas zu ändern oder gar zu helfen.«
»Ja, genau das hat er gesagt«, erwiderte Nerissa. »Aber man kommt sich so hilflos vor und meint, man hätte es wissen müssen.«
»Sicher hätte es Serafina keinen Trost bedeutet, wenn Sie Tag und Nacht in der Annahme an ihrem Bett gesessen hätten, dass sie jeden Augenblick sterben könnte«, sagte Vespasia trocken.
Nerissa lächelte schwach, obwohl ihr klar war, dass sich das in der Situation nicht ziemte. »Möchten Sie hinaufgehen und Abschied von ihr nehmen?«
Vespasia war nicht der Ansicht, dass es um einen Abschied ging, sondern eher um ein »Wiedersehen« in möglicherweise nicht allzu großer zeitlicher Ferne. Auch war es für jede Art von Kommunikation zu spät, es sei denn in Gedanken. Von Serafina war nichts übrig als eine von ihrer Seele verlassene Hülle. Doch wollte sie sehen, ob es vor dem Beginn des letzten Schlafes einen Todeskampf gegeben hatte. Es würde sie mehr erleichtern, als sie angenommen hatte, wenn das nicht der Fall war.
»Danke.« Sie erhob sich. Nerissa stand ebenfalls auf und folgte ihr ins Vestibül und nach oben zu dem Zimmer, in dem sie erst vor wenigen Tagen Serafina besucht hatte.
Nerissa wartete auf dem Gang neben einer riesigen weiß-blauen chinesischen Vase mit Bambusdekor. Mit aschfahlem Gesicht blickte sie aus dem mehrere Schritte von der Tür entfernten Fenster am Treppenabsatz.
Vespasia trat ein und betrachtete die friedlich daliegende Serafina. Auch wenn sie nicht eng miteinander befreundet gewesen waren, hatte es in ihrer beider Leben weit mehr Gemeinsamkeiten gegeben als bei den meisten Angehörigen ihrer Generation. Die Leidenschaft, mit der sie an ihren Überzeugungen hingen, hatte sie von anderen unterschieden, die sie im Alltagsleben kannten, sogar – oder vielleicht auch gerade – von ihren Angehörigen.
Jetzt war alle Angst aus Serafinas Zügen gewichen. Entweder war das Schlimmste, was sie
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