Mord in Londinium
Stimmung.
XXXV
Helena traf mich beim Betrachten einer Straßenkarte an. Sie beugte sich über meine Schulter, betrachtete die Notiztafel, auf der ich eine Namensliste notiert hatte. »›Goldener Regen‹, ›Ganymed‹, ›Schwan‹ – Schwan wie bei Leda, die von Jupiter in Form eines großen weißen Vögelchens verführt wurde. Der Goldene Regen muss sich auf Danaë beziehen, seine andere Eroberung. Ganymed steht für Jupiters Mundschenk …«
»Du folgst meinen Gedanken«, stimmte ich zu.
»Die Namen der Weinschenken, in denen es deine Gangster auf alle abgesehen haben, stehen in Verbindung mit Jupiter? Themenbezogen! Wie aufregend«, rief Helena mit dem ihr eigenen, wohlerzogenen Spott. »Jemand muss große Stücke auf sich selbst halten, um darauf zu kommen.«
»Als Sohn eines Antiquitätenhändlers mag ich Dinge, die hübsch zusammenpassen«, bestätigte ich trocken. »Und auch so hilfreich für ihre Buchhalter – müssen zwangsläufig Buchhalter im Plural sein: ›Verbucht alle verpachteten Cauponas unter Jupiter !‹ Außerdem kapieren Gastwirte, die dem Druck nicht nachgeben wollen, schnell, wie mächtig die Geldeintreiber sind, wenn sie merken, dass immer mehr Jupiterschenken aufmachen.«
»Wir könnten einen Spaziergang machen«, beschloss Helena. »Uns bleibt noch Zeit vor dem Essen. Wir könnten die Karte mitnehmen und Schenken eintragen. Rauskriegen, wie ausgedehnt der Erpressungsbereich ist.«
Nux sprang bereits aufgeregt um uns herum.
Wir verbrachten zwei Stunden damit, kreuz und quer durch die Straßen vom Flussufer bis zum Forum zu streifen. Es deprimierte uns beide. Die freizügigen Freundinnen des ehebrecherischen Gottes waren überall vertreten: Io, Europa, Danaë, Alkmene, Leda, Niobe und Semele. Was für ein Mordskerl! Hera, die ewig eifersüchtige Himmelskönigin, würde keinen Spaß daran haben, einen Urlaub in Londinium zu verbringen und zu sehen, wie prominent ihre Rivalinnen hier waren. Für die Sicherheit der Stadt wünschte ich mir selbst, dass der Himmelskönig seinen göttlichen Schwanz mehr im Zaum gehalten hätte. Seine hübschen Gespielinnen waren nur der Anfang. Donnerkeile schmückten harmlose Garküchen, und Zepter hingen über den Eingängen britannischer Biergärten. Für Maler, die attraktive Blitze malen konnten, musste das hier der Himmel sein. Oder sie versoffen ihr Honorar bei Rotem aus Niedergermanien in der Olympus-Weinstube an der Ecke zur Fischstraße. Zweifellos mit heißem oder kaltem Ambrosia, das jeden Mittag in sandigem Flachbrot serviert wurde.
Die Preise waren sehr hoch. Tja, das mussten sie auch sein. Die Leute, die diese Imbissbuden führten, mussten ihre Zahlungen an die Geldeintreiber subventionieren. Irgendjemand musste irgendwo das Geld aus diesem heruntergekommenen Kaff am Ende der Welt nur so scheffeln, Schwarzgeld in riesigen Mengen. Dieser Spaziergang machte mir endgültig klar, dass die Bandenführer stinkwütend sein mussten, weil Pyro und Spleiß, die das Geld einsammelten, vom Statthalter eingesperrt worden waren – auf meine Veranlassung.
Zu Hause schickte Helena die Sklavin weg, die ihr das Haar kräuseln wollte, und statt sich aufzudonnern, hockte sie sich an ein Fenster, um das Abendlicht einzufangen, während sie unsere Karte mit sauberen Punkten in roter Tinte markierte. Ich kam von einem lauwarmen Bad zurück, entdeckte, wie die Karte jetzt aussah, und fluchte. Die Punkte breiteten sich vom Geschäftszentrum im Osten der Brücke über den Decumanus Maximus bis zum Forum aus.
Ich schickte die Karte zu Frontinus, um ihm die Stimmung zu versauen, während er sich rasieren ließ. Ich setzte mich in den runden Korbstuhl. Helena wusch sich rasch mit dem Schwamm ab, kramte ein Gewand aus ihrer Kleidertruhe, legte Schmuck an. Sie berührte meine Wange. »Du siehst müde aus, Marcus.«
»Ich hab überlegt, wo ich mich da reinmanövriert habe.«
Sie kam zu mir, kämmte sich ihr feines Haar. Nach einem vagen Versuch, es hochzustecken, ließ sie es einfach locker runterfallen. Da sie wusste, dass der Kamm in meinen Locken stecken bleiben würde, ordnete sie sie stattdessen mit ihren langen Fingern. »Du weißt, dass es lebenswichtig ist.«
»Ich weiß, dass es gefährlich ist.«
»Du hältst es für richtig.«
»Sie mussten von jemandem aufgehalten werden, ja.«
»Aber du fragst dich, warum von dir?« Helena wusste, dass ich manchmal ihrer Beruhigung bedurfte. »Weil du die Beharrlichkeit hast, Marcus. Du hast den Mut,
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