Mord in Mesopotamien
Sie doch, Schwester!», sagte Dr. Reilly.
«Es ist wirklich nichts», wiederholte ich verwirrt, «es ging mir nur durch den Kopf, dass jemand, wenn er etwas wüsste oder einen Verdacht hegte, es nicht gern vor allen sagen würde, vor allem nicht in Gegenwart von Dr. Leidner.»
Zu meiner großen Überraschung nickte Monsieur Poirot zustimmend. «Sie haben vollkommen Recht; aber ich will Ihnen mein Vorgehen erklären. In England kann man vor jedem Rennen auf dem Sattelplatz die Pferde betrachten, nicht wahr? Man zeigt sie, damit sich das Publikum eine Meinung über sie bilden kann. Und das war auch der Zweck meiner kleinen Konferenz.»
Dr. Leidner rief heftig: «Ich halte es für ausgeschlossen, dass ein Mitglied meiner Expedition in diesen Mord verwickelt ist!» Dann wandte er sich mir zu und sagte energisch: «Schwester, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Monsieur Poirot erzählen würden, was Ihnen meine Frau vor zwei Tagen anvertraut hat.»
Ich wiederholte alles so genau wie möglich.
Als ich fertig war, sagte Monsieur Poirot: «Sehr gut! Sehr gut! Sie haben sehr klar und deutlich berichtet, Sie werden mir eine große Hilfe sein.» Dann fragte er Dr. Leidner: «Besitzen Sie diese Briefe?»
«Ich habe sie hier; ich dachte mir, dass Sie sie als Erster sehen möchten.»
Nachdem Poirot sie gelesen und aufmerksam geprüft hatte – ich war enttäuscht, dass er sie nicht mit einem Mikroskop oder so etwas Ähnlichem untersuchte –, legte er sie auf den Tisch, räusperte sich und sagte: «Den ersten Brief erhielt Ihre Frau also kurz nach Ihrer Heirat in Amerika. Die früheren hatte sie vernichtet. Bald nach dem ersten kam der Zweite, und kurz danach sind Sie beide knapp dem Gastod entronnen. Dann verließen Sie Amerika, und fast zwei Jahre lang kam kein Brief. Es begann erst wieder dieses Jahr… vor etwa drei Wochen. Stimmt das?»
«Genau.»
«Ihre Frau geriet in große Aufregung, und nach einer Besprechung mit Dr. Reilly engagierten Sie Schwester Leatheran, damit sie Ihrer Frau Gesellschaft leiste und ihre Furcht zu zerstreuen suche?»
«Ja.»
«Es ereigneten sich gewisse Vorfälle… Hände klopften an das Fenster… ein gespenstisches Gesicht erschien… Geräusche ertönten im Antiquitäten-Zimmer. Sie waren nie Zeuge dieser Phänomene?»
«Nein.»
«Niemand außer Mrs Leidner?»
«Pater Lavigny hat Licht im Antiquitäten-Zimmer gesehen.»
«Ja, das habe ich nicht vergessen.» Poirot schwieg einen Augenblick und fragte dann: «Hat Ihre Frau ein Testament hinterlassen?»
«Ich glaube nicht.»
«Warum nicht?»
«Es schien von ihrem Standpunkt aus überflüssig.»
«War sie nicht reich?»
«Doch, das war sie. Ihr Vater hat ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, dessen Nutznießung sie hatte, an das sie aber nicht heran konnte. Nach ihrem Tod sollten es ihre Kinder bekommen, oder, falls sie kinderlos sterben sollte, das Pittstown-Museum.»
Poirot trommelte nachdenklich mit den Fingern auf den Tisch. «Dann können wir also ein Motiv von vornherein ausschalten. Sie werden verstehen, wonach ich immer zuerst suche. Wem nützt der Tod des Opfers? In diesem Fall einem Museum. Hätte Mrs Leidner ein großes Vermögen besessen, wäre es eine interessante Frage gewesen, ob Sie oder der ehemalige Gatte das Vermögen erben. Im zweiten Fall hätte dieser wiederauferstehen müssen, um es zu beanspruchen, und sich dadurch in Gefahr begeben, festgenommen zu werden, obwohl ich annehme, dass seine frühere Schuld verjährt ist. Aber diese Hypothese trifft ja nun nicht zu. Wie ich Ihnen schon sagte, bemühe ich mich stets, zuerst die finanzielle Frage zu klären. Als Nächstes verdächtige ich den Ehepartner des Opfers. Sie aber haben erstens beweisen können, dass Sie gestern Nachmittag nicht im Zimmer Ihrer Frau gewesen sind, zweitens verlieren Sie Geld, statt durch den Tod Ihrer Frau etwas zu erhalten, und drittens…» Er hielt inne.
«Ja?» fragte Dr. Leidner.
«Drittens», fuhr Poirot langsam fort, «pflege ich sofort zu erkennen, ob Liebe vorhanden ist oder nicht, und ich glaube, Dr. Leidner, dass die Liebe zu Ihrer Frau die große Leidenschaft Ihres Lebens war, nicht wahr?»
Dr. Leidner antwortete schlicht: «Ja.»
Poirot nickte. «Wir können also weitergehen.»
«Also kommen Sie zur Sache!», drängte Dr. Reilly ungeduldig.
Poirot warf ihm einen missbilligenden Blick zu. «Seien Sie nicht ungeduldig, lieber Freund. In einem Fall wie diesem muss man ordentlich und methodisch vorgehen.
Weitere Kostenlose Bücher