Mord in Thingvellir
nichts«, sagt Sigrídur.
Sie kommt zurück ins Schlafzimmer. Sieht die Fotos auf dem Bett. Kommt näher. Betrachtet das Bild, das ich in der Hand halte. Schnappt nach Luft, erbleicht.
»Was ist los?«, frage ich besorgt.
»Gehören Gunnhildur diese Fotos?«, fragt sie flüsternd.
»Die waren da in der Schublade.«
»Der, der da ganz rechts steht …«
»Ásleifur?«
»… er hat mich vergewaltigt. Gunnhildur ist seine Tochter.«
55
Raggi hat aufgehört, sich über meine wahnsinnigen Ideen lustig zu machen.
Jedenfalls im Augenblick.
Der Leichenfund in Klettur hat ihn genauso überrascht wie die meisten anderen, die der Meinung waren, dass ich mich völlig verrannt hätte. Aber er ist Manns genug, das zuzugeben.
Ich konnte Sigrídur davon überzeugen, mit mir zu Raggi zu fahren. Um Gunnhildurs Verschwinden zu melden. Und ihm die Fotos zu zeigen.
Er betrachtet sie eingehend. Und legt seine Stirn in Falten.
»Es war vom Anfang der Ermittlungen an klar, dass Árni Geir Soleen kannte«, sagt er schließlich. »Aber dass Grímur und Ásleifur sie auch getroffen haben, sind neue und unerwartete Informationen.«
»Finde ich auch«, sage ich.
»Welche Schlüsse ziehst du daraus?«
Ich erzähle ihm in allen Details von Gunnhildurs und Árni Geirs Berichten über die Party, die im Sommer in seinem Weinkeller stattgefunden hat. Und füge hinzu:
»Natürlich ist es kein Problem, mit einem DNA-Vergleich herauszufinden, wer von denen, die auf dieser Party waren, Soleen vergewaltigt hat.«
Raggi will nichts versprechen. Außer, dass er die Sache mit seinen Vorgesetzten diskutiert. Und die Schwarzjacken anweist, nach Gunnhildur Ausschau zu halten, ohne direkt eine formelle Suche einzuleiten.
Es ist schon fast elf Uhr abends, als ich Sigrídur wieder in ihr Haus nach Mosfellsbaer bringe. Auf dem Rückweg in die Stadt entschließe ich mich, Ásleifur zu überraschen.
Er wohnt in einem großen Einfamilienhaus. In einem Viertel, das von Arbeitern einmal Snob Hill von Reykjavík genannt wurde.
Ich klingele ein paar Mal. Bevor Ásleifur in einem dicken, weinroten Bademantel und mit Hausschuhen aus hellbraunem Leder an die Tür kommt.
»Du reagierst nicht mehr auf meine Nachrichten«, sage ich. »Deshalb fand ich es angemessen, dich zu besuchen.«
Er starrt mich an. Mit einem halbvollen Cognacglas in der Hand.
»Deine Frechheit und Dreistigkeit sind wirklich unglaublich«, sagt er schließlich. »Das hast du nicht von deinem Vater. Der wusste, was sich gehört.«
»Ich denke, du solltest mich reinbitten.«
»Warum nicht«, antwortet Ásleifur und weicht zurück. »Mach die Tür zu und folge mir in die Bibliothek.«
Er bleibt erst stehen, als wir in ein großes, dunkles Zimmer gekommen sind, in dem dicke, rote Gardinen zugezogen sind.
Schwerfällige Eichenregale reichen an zwei Wänden vom Boden bis zur Decke. Sie sind mit gebundenen Büchern verschiedener Größen und Arten bestückt.
An der dritten Wand hängt ein großes Gemälde von einem Ritter auf einem weißen Pferd, der einen langen Speer durch einen bösartigen Drachen jagt. Ein junges Mädchen verfolgt den Kampf. Es ist spärlich bekleidet und starr vor Schreck.
Ásleifur nimmt in einem mächtigen lederbezogenen Sessel Platz, der hinter einem alten, dunkelbraunen Schreibtisch steht.
»Der Cognac steht im Schrank am Fenster«, sagt er.
»Nein danke, vielleicht später.«
Er blickt sich um und prostet dem Gemälde hinter sich zu.
»Hier siehst du den heiligen Schurken, der versucht, den Drachen zu töten, den alle reinen und unschuldigen Jungfrauen fürchten und herbeisehnen«, sagt er.
»Sie sehnen sich nach ihm?«, frage ich.
»Fürchten und herbeisehnen«, wiederholt er. »Wenn kleine Mädchen sich zu geschlechtsreifen Jungfrauen entwickeln, fängt das Blut an zu wallen, das Lebenselixier der Natur, strotzend vor Kraft der Lust, die den Willen zur Erneuerung in sich trägt. Das Blut der Jungfrau lockt den Drachen.«
Ihm scheint es mit diesem Geschwafel ernst zu sein.
»Drachen wie dich?«, frage ich schließlich.
Er guckt mich an. Seine Miene ist unergründlich.
»In den letzten Wochen hat es mich am meisten überrascht, zu sehen, wie sich Kallis Mädchen in einen Drachentöter verwandelt«, sagt er. »Du hast einen Minister zur Strecke gebracht. Herzlichen Glückwunsch.«
»Berichtest du mir, was passiert ist, als du Soleen auf Árni Geirs Party getroffen hast?«
»Was für eine Party?«
»Ich habe euch auf Fotos gesehen, wie ihr im
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