Mord in Thingvellir
und es genug Arbeit für alle gibt«, sagt er. »Aber die jungen Leute erweisen den Älteren keine Ehre, und niemand hier achtet die Gesetze Gottes.«
»Soleen auch nicht?«
»Ich habe versucht, auf sie aufzupassen, so gut ich konnte.«
Múhammed schlägt sich die Hände vors Gesicht. Aber der Versuch, seinen Schmerz vor mir zu verbergen, missglückt.
»Niemand ist zu alt zum Weinen.«
Sagt Mama.
8
Donnerstag, 19. August
Der Bezirksverwalter durfte es sich gnädigerweise bei den Goldjungs in der Hauptstadt gemütlich machen. Im Vorzeigepalast an der Skúlagata.
Wir nehmen auf unbequemen Stühlen Platz. An einem langen Konferenztisch in der Mitte des Verhörzimmers.
Múhammed ist nervös. Ganz kribbelig. Und weiß nicht, was er mit seinen Händen machen soll.
Während wir darauf warten, dass der Bezirkie sich gnädigerweise blicken lässt, kommt ein junger, ungehobelter Grünschnabel mit einem Laptop ins Zimmer. Er stellt das Gerät auf den Tisch und bereitet sich darauf vor, alles mitzuschreiben.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Halldór.«
»Bist du schon lange dabei?«
»Ein paar Jahre«, murmelt er ohne aufzusehen.
Ein wirkliches Genie in Konversation!
Ich habe auf dem Weg durch die heiligen Hallen der Goldjungs bei Raggi angeklopft. Um zu sehen, ob es ihm möglicherweise etwas besser gelingt, seine Fettgene in Schach zu halten. In seinem lang andauernden und hoffnungslosen Krieg gegen seine Wampe.
Er ist der einzige Höhergestellte in diesem Laden, dem ich wenigstens ein bisschen trauen kann. Seit ich zum ersten Mal richtig mit dem Herrschaftssystem der Männer aneinandergeraten bin. Als Halla ermordet wurde. Die hübscheste Abteilungsleiterin der Staatskanzlei.
Aber niemand antwortete. Und die Tür zu seinem Büro war abgeschlossen.
Raggi könnte noch im Sommerurlaub sein. Irgendwo in südlicheren Gefilden. Wo die brennend heiße Sonne so wunderbar die Faulheitsgene streichelt.
Hreggvidur ist knapp unter vierzig.
Er hat ein Gesicht wie ein Feinschmecker. Trägt teure, gerade geschnittene Kleidung, die es nicht schafft, den weichen Rettungsring in der Taille zu verbergen. Die gestreifte Krawatte ist bunt. In der Art, von der Politiker kurz vor den Wahlen immer so begeistert sind.
Die Karriere des Bezirkies ist typisch für einen politischen Pöstchenfänger. Als er noch Jura studiert hat, ist er als Erstes in die größte Partei eingetreten. Sobald ihm klar wurde, dass die Schlüssel zu allen wichtigen Posten des isländischen Rechtssystems in der Schreibtischschublade des Justizministers liegen. Die Bedingung für einen Senkrechtstart im öffentlichen Dienst ist die richtige Partei. Und drauf Acht geben, sich nicht mit dem harten Machtkern der Partei anzulegen. Dem Parteibesitzerverein.
Der Bezirkie nimmt Múhammed gegenüber Platz. Legt die dicke, hellbraune Akte vor sich auf den Tisch und beginnt, darin zu blättern.
Ich überlasse ihm nicht den Anfang.
»Da mein Mandant mit dem rechtlichen Status eines Beschuldigten zum Verhör bestellt wurde, fordere ich umgehend Kopien von allen Papieren des Falles an«, sage ich.
»Das muss noch ein bisschen warten«, antwortet der Bezirkie hochmütig.
Múhammed fällt uns ins Wort:
»Warum will mir niemand sagen, wie meine Tochter gestorben ist?«, fragt er.
Hreggvidur räuspert sich.
»Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund«, antwortet er. »In diesem Stadium der Ermittlungen dürfen wir nichts verlauten lassen, was möglicherweise den Interessen bei der Klärung des Falles schaden könnte. Aber hier bin ich derjenige, der die Fragen stellt, und du derjenige, der sie beantworten soll.«
Múhammed möchte etwas erwidern, aber schweigt und senkt den Kopf.
Der Bezirkie tastet sich langsam vor. Fragt ihn über die Einreise der Familie nach Island vor fast fünf Jahren aus, warum sie hierhergekommen sind und wie es ihnen ergangen ist, sich hier einzugewöhnen. Lenkt dann das Gespräch auf Soleen, fragt, was sie gelernt und gearbeitet hat.
Aber das ist nur die Aufwärmphase. Er hat sich eindeutig über die Antworten zu all diesen Fragen in den ihm vorliegenden Unterlagen informiert.
Endlich kommt er zum Kern der Sache.
»Uns ist bekannt, dass es im vergangenen Winter und in diesem Sommer immer wieder Unstimmigkeiten zwischen dir und Soleen gegeben hat. Warum?«
»Ich habe sie beschützt«, antwortet Múhammed.
»Beschützt vor wem?«
»Manche Mädchen, die sie kennen gelernt hat, versuchten, einen schlechten Einfluss auf sie
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