Mord in Thingvellir
Thórdís wichtig sind. Und sie wollen unter allen Umständen verhindern, dass ein Dritter sie zu Gesicht bekommt.
Recht unwahrscheinlich.
Aber trotzdem eine Möglichkeit, die man näher untersuchen sollte.
Sindri trägt daher beide Kartons wieder ins Büro. Willigt ein, für mich die Negativsammlung durchzusehen und zu lesen, was auf allen Umschlägen steht. Bevor wir die Filme in Rauch aufgehen lassen.
»Kannst du mir etwas genauer sagen, wonach ich ganz besonders Ausschau halten soll?«, fragt er.
Berechtigte Frage.
»Ich bin nicht ganz sicher«, antworte ich ihm ehrlich. »Halt mal die Augen auf, was Beschriftungen angeht, in denen Thórdís oder Eddi genannt werden.«
Als Sindri loslegt, fahre ich den Computer hoch. Um mich um mein Stellasparschwein zu kümmern.
Es fällt mir schwer, den Computer zu nutzen, wegen der Verbände an meinen Händen. Aber ich versuche trotzdem, etwas zu arbeiten.
Nach einer halben Stunde räuspert Sindri sich bescheiden.
»Hast du etwas gefunden?«, frage ich.
Er reicht mir einen dicken Stapel Negative.
»Ich habe nirgendwo etwas über Eddi stehen sehen, aber Thórdís’ Name steht auf allen diesen Umschlägen.«
Ich halte jeweils einen Negativstreifen aus jedem Umschlag in das Deckenlicht. Aber ich kann auf keinem etwas Neues entdecken. Nur den blassen Körper von Thórdís.
Ein Umschlag hingegen ist anders beschriftet. Da hat Karl Blómkvist mit seiner festen Schrift geschrieben:
»Fotos von Thórdís, 13. August 1995.«
»Dreizehnter August?«, frage ich. »Das war Maries letzter Tag in Klettur.«
»Was für eine Marie?«
Ich gucke Sindri verwundert an.
Habe ich ihm wirklich nie von dem französischen Mädchen erzählt?
»Ist nicht so wichtig«, antworte ich. Öffne den Umschlag und lege die Negative auf den Schreibtisch.
Insgesamt sind es fünf Streifen. Sechs Bilder auf jedem. Dreißig Fotos.
Sindri nimmt einen Negativ-Streifen mit zwei Fingern und hält ihn ins Licht. Ich mache es mit einem anderen Streifen ebenso.
»Diese Bilder sind viel zu dunkel«, sagt er. »Sie wurden wahrscheinlich mitten in der Nacht aufgenommen, ohne einen Blitz zu benutzen.«
»Ist es möglich, sie aufzuhellen?«
»Ich könnte die Negative einscannen, sie im Computer bearbeiten und ausdrucken.«
»Sindri-Herzchen, machst du das für mich?«
»Kein Problem.«
Ich nehme die Post der letzten Tage mit in die Küche. Schaufle Werbezettel und anderen Mist schnell in den Mülleimer. Während der starke Espresso durch die Kaffeemaschine in meine Tasse läuft.
Schwarzer Kaffee und Briefe. Das ist eine gute Mischung.
Die meisten betreffen meine Kanzlei. Schreiben von Anwälten, Banken, Fonds, Schuldnern, Aktienberatern und Ämtern.
Aber ein Brief hat einen ganz anderen Inhalt. Aufgegeben in Frankreich.
Eine handschriftliche Antwort auf den Brief, den ich an Nicole Fauré geschrieben habe. Auf einem bläulichen Papier. Wie der Brief aus dem Jahr 1995.
Ich gucke zuerst auf die Unterschrift.
Céline Dupart.
Sie behauptet, die Schwester von Marie zu sein. Und antwortet mir anstelle ihrer Mutter, die vor vier Jahren verstorben ist.
Es stellt sich heraus, dass ihre Familie in Dijon keine Neuigkeiten von Marie erhalten hat, seit sie Island mit der Norröna im August 1995 verlassen hat.
Den ganzen Winter 1995-1996 wurde sie auf den Färöern, in Dänemark, Norwegen und Deutschland steckbrieflich gesucht, aber ohne Erfolg.
Marie schien spurlos verschwunden zu sein.
»Dein Brief war eine freudige Überraschung und hat in uns die Hoffnung geweckt, dass wir Marie endlich wiedersehen können«, schreibt Céline am Ende des Briefes. »Kannst du uns sagen, wo sie sich aufhält?«
Nein. Das kann ich nicht. Leider.
Später am Abend gehe ich wieder ins Büro. Öffne einen meiner Aktenschränke, hole die hellbraune Mappe mit dem Namen Marie Fauré heraus. Lege den Brief von Céline auf das ausgedruckte Bild ihrer Schwester, auf dem sie Ásleifur, Grímur, Eddi und andere Kunden in Klettur bedient.
Lange betrachte ich das lachende Gesicht des französischen Mädchens. Überlege, ob sich Marie irgendwo im Ausland immer noch quietschfidel herumtreibt.
Oder ob sie doch tot ist? Wie in Elín Eddas schrecklichem Alptraum?
46
Árni Geir war bereit, mich zu treffen.
Ich habe mich einfach eingeladen. In sein dreistöckiges Haus, das er vor zwei Jahren im Reykjavíker Altstadt-Stadtteil Thingholt gekauft und für viele Millionen hat grundsanieren lassen.
Das Haus selbst ist alt. Aber das
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