Mord ist der Liebe Tod
den besonders taktvollen Kollegen Frost vor die Tür gesetzt hatte, war Ruhe eingekehrt. Offensichtlich traute sich erst mal niemand mehr herein. Sie trank in Ruhe noch einen Kaffee und blickte sich um. Alles sah aus wie vor einigen Monaten, als sie das letzte Mal hier gesessen hatte. Aber hier waren die Erinnerungen anders als in ihrer alten Wohnung. Hier dachte sie weniger an ihr Versagen und mehr an die unzähligen Fälle, die sie mit ihren Kollegen meist erfolgreich, manchmal leider auch ohne Erfolg, bearbeitet hatte.
T rotz allem war die Entscheidung gut gewesen, wieder hier zu arbeiten. Und damit würde sie jetzt loslegen. Sie freute sich nicht gerade darauf, mit Wilmas Mutter zu sprechen, denn sie konnte sich einige unangenehme Wendungen im Gesprächsverlauf vorstellen. Aber immerhin kannte sie die Frau persönlich und ihr gegenüber würde sie sich vielleicht eher öffnen.
Sie nahm ihren eigenen Wagen und fuhr in ihre alte Heimat, nach Sachsenhausen, wo Frau Markgraf in der Nähe der Darmstädter Landstraße wohnte.
Der Wohnblock war so trist, wie sie ihn von früher in Erinnerung hatte. Nullachtfünfzehn Wohnungen, immer acht in einem Hausteil, mit winzigen Balkonen, auf denen nie jemand saß. Überall Satellitenschüsseln und Wäsche.
Im Norden ragte der Henninger Turm über den Häusern empor. Das alte, in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen den Protest der Anwohner erbaute Getreidesilo der Traditionsbrauerei beherbergte früher im obersten Geschoss ein Drehrestaurant. Heute war er wegen Baufälligkeit gesperrt und eine Bürgerinitiative kämpfte gegen den drohenden Abriss.
Als sie an Frau Markgrafs Wohnung klingelte, bewegte sich der Vorhang in der rechten Erdgeschosswohnung. Die neugierige Nachbarin, die Jenny immer heimlich Else Kling genannt hatte, wohnte offensichtlich auch noch hier. Jenny winkte freundlich und drückte gegen die Tür, als der Summer ertönte.
Im altbekannten M ief aus Katzenurin und Putzmittel stieg sie die Treppe in den zweiten Stock hinauf, wo Frau Markgraf neugierig aus der Tür spähte.
„ Jennifer?“, rief sie erstaunt. „Bist du das wirklich?“
Jenny nickte. „Ja , Frau Markgraf, ist ganz schön lange her, was? Kann ich bitte einen Moment reinkommen?“
Die Frau, die verhärmt aussah und zwanzig Jahre älter als sie nach Jennys Rechnung sein musste, öffnete die Tür.
„ Natürlich Kind, komm nur rein.“
Jenny fühlte sich unwillkürlich in die Zeit vor fünfunddreißig Jahren zurückversetzt, als sie mit Wilma durch dieselbe Tür gegangen war, um am Resopal-Küchentisch Plätzchen zu essen und dünnen Kakao zu trinken. Einen Herrn Markgraf hatte es schon früher nicht gegeben. Der hatte schon das Weite gesucht, als Wilmas Mutter schwanger wurde.
Viel hatte sich nicht verändert. Hier und da ein neues Möbelstück. Einige neue Tapeten, die nicht viel anders aussahen als die alten. Und überall Bilder von Wilma.
„ Komm mit in die Küche, da warst du doch immer am liebsten.“
D as war eigentlich der einzige Raum, den sie damals kennengelernt hatte, außer der Toilette natürlich. Das Wohnzimmer war die gute Stube, in die man nur abends oder mal am Sonntag ging. Und das Schlafzimmer? Eine anständige Frau hätte nie jemanden ins Schlafzimmer schauen lassen, auch kein Kind, und Frau Markgraf hielt sich für eine anständige Frau.
Und Wilma schämte sich schon immer für ihr winziges Zimmer, in das man mit Mühe ein Bett und einen schmalen Schrank hatte quetschen können.
„ Setz dich doch. Möchtest du einen Kakao, oder, äh, vielleicht doch lieber einen Kaffee?“
„ J a, gerne, einen Kaffee. Und … es tut mir sehr leid, was mit Wilma passiert ist. Auch wenn wir uns nicht mehr gesehen haben. Trotzdem, mein Beileid.“
Frau Markgraf stieß einen Schluchzer aus und suchte in der Kitteltasche nach einem Taschentuch.
„ Ja, danke, das hab ich nie verstanden, dass ihr euch gestritten habt. Wo ihr doch so gute Freundinnen wart. Und nur, weil sich dein Freund in sie verliebt hat. Da konnte sie ja nichts dafür. Wo die Liebe halt hinfällt.“
Nun, das hatte Jenny etwas anders in Erinnerung, aber es nutzte jetzt niemandem mehr, es richtig zu stellen.
Neugierig war sie allerdings , ob Wilma ihrer Mutter wirklich eine so geschönte Version der damaligen Geschehnisse erzählt hatte oder ob sich Frau Margraf eine für sie angenehme Version zurecht gedichtet hatte.
Frau Markgraf hatte sich wieder gefasst und servierte zwei Tassen dünnen
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