Mord mit kleinen Fehlern
Berichterstattung? Das Werk von Dumpfbacken?«
Anne blinzelte ungläubig die Titelseite an. Ihre Kopf- schmerzen meldeten sich zurück. Dann fiel ihr mit einer Welle der Angst alles wieder ein. Sie waren gegen zwei Uhr eingeschlafen, nachdem sie Bennie zum zehnten Mal angerufen hatten, um zu fragen, ob man Kevin schon verhaftet habe. »Hat Bennie heute Nacht wegen Kevin angerufen? Haben sie ihn verhaftet?«
»Nein. Die Cops haben ihn nicht erwischt. Er ist nicht ins Motel zurückgekehrt. Er ist immer noch irgendwo da draußen. Das versuche ich dir. ja 'die ganze Zeit zu sagen. Du bist in Gefahr, Anne. Wir müssen dich hier wegbringen.«
Anne konnte ihren Blick einfach nicht von der Zeitung abwenden. Sie erinnerte sich an die Schlagzeilen an jenem Morgen - waren es wirklich erst drei Tage? -, als all das hier angefangen hatte. Aber die Schlagzeile von heute war noch schlimmer. Anne musste sie immer wieder lesen:
MURPHYS MUTTER: »DAS IST NICHT MEINE TOCHTER!«
Unter der Schlagzeile war ein Foto von Annes Mutter. Und sie stand vor der städtischen Leichenschauhalle.
2 5
Das private Besprechungszimmer des Polizeichefs im Roundhouse war groß und rechteckig und verfügte über einen langen Walnussholztisch mit einer schützenden Tischplatte aus glänzendem Glas. Eine amerikanische Flagge lehnte zusammengerollt in einer Ecke an der Wand, und in einer anderen Ecke sah Anne die blaue Polyesterflagge des Commonwealth of Pennsylvania, die sie aus den Gerichtssälen kannte. Eine Klimaanlage kühlte den Raum, aber vielleicht waren es auch nur ihre Emotionen.
Zehn Lederstühle mit hoher Lehne standen rund um den Tisch, spiegelten sich verschwommen auf der Glasplatte. Anne, Bennie, Mary und Judy setzten sich auf die linke Seite. Auf der rechten Seite nahmen der stellvertretende Polizeichef, Deputy Commissioner Joseph Parker sowie Detective Sam Rafferty, dessen Partner und ein junger Schwarzer im Anzug Platz, der sich als anwaltlicher Vertreter der Stadt vorstellte. Der Anwalt schüttelte allen die Hände und machte sich Notizen auf einem frischen Notizblock, kaum dass er an seinen Platz zurückgekehrt war. Anne rief sich in Erinnerung, dass es sich hier nicht um einen Krieg handelte, auch wenn auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches eine Schlachtlinie in Form von aufgereihten Dokumenten aufgebaut war, sich der Anwalt in Erwartung eines Rechtsstreites Notizen machte, und die Frau, die jetzt den Raum betrat und sich stumm ans Kopfende des Tisches setzte, die mutmaßliche Klägerin war, eine gewisse Terry Murphy. Annes Mutter.
Zweifelsohne war das ihre Mutter, obwohl Anne sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Sie schien kleiner, als Anne sie in Erinnerung hatte, vielleicht einen Meter fünfundfünfzig. Die vielen. Jahre des Pillen- und Alkoholkonsums hatten eine Frau zerstört, die einst bezaubernd genug gewesen war, um Dutzende Männer zu betören und sich berechtigte Hoffnungen auf Kinoruhm zu machen. Ihre Wangen waren eingefallen, die Haut war verwelkt, und das Blau ihrer Augen schien verwässert, was durch den allzu dick aufgetragenen Eyeliner nur noch hervorgehoben wurde. Ihr Mund wirkte durch die üppige Schicht Lippenstifts größer, und sie trug ein T-Shirt im gleichen Ton mit tiefem Ausschnitt, weiße Capri-Hosen und weiße Sandaletten. Etwas an diesen Schuhen gab Anne einen Stich.
Sie sah zu, wie ihre Mutter den Polizeibeamten die Hand gab, eine kleine Hand mit lackierten Fingernägeln. Ihre Mutter nickte mit einem leichten Zittern, als ob sie frisch von ihrem zigsten Aufenthalt in einer Reha-Klinik käme. Ihre schulterlangen Haare waren offenbar erst vor kurzem tiefschwarz gefärbt worden, um den ergrauten Haaransatz zu kaschieren. Sie schüttelte auch Bennie, Judy und Mary die Hand und sah Anne erst ganz zuletzt an.
»Hallo, Anne«, sagte ihre Mutter mit dünner Stimme, aber Anne erwiderte nichts, weil sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte und wie sie, wenn sie erst einmal angefangen hatte, wieder aufhören konnte.
Der stellvertretende Polizeichef räusperte sich. »Meine Damen und Herren, ich möchte zuerst unsere Gäste begrüßen und ihnen dafür danken, dass sie sich an diesem Feiertag hierher bemüht haben, um über ein Thema zu sprechen, das für uns alle wichtig ist.« Er war schwarzhaarig und untersetzt, mit kahlen Schläfen, hatte dunkle, freundliche Augen und ein sanftes Lächeln. Ein unseliges Doppelkinn wölbte sich über dem engen Kragen seines steifen weißen Hemdes.
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