Mord ohne Leiche
weiteren Erkenntnisse über eine so kluge Frau wie Tracy zutage fördern
würden. Wenn sie noch lebte und nicht gefunden werden wollte, dann würde sie
auch nicht mehr ihren eigenen Namen benutzen. Sie wäre nicht so dumm, ihr
Kredit- bzw. Girokonto zu benutzen. Sie hätte längst eine neue Identität
angenommen. Ich würde Rae die Kontobewegungen prüfen lassen, denn das war immer
vernünftig, aber ich war sicher, daß es Zeitverschwendung war.
Schließlich riß ich das Blatt mit der
Liste vom Block, knüllte es zusammen und warf es auf den Boden. Einen Moment
lang überlegte ich, ob ich mir das Notizbuch mit den Rollenentwürfen durchlesen
sollte, das ich aus Tracys Zimmer hatte mitgehen lassen, aber ich beschloß, mir
das für morgen aufzuheben. Sollte ich Marc Emmons immer noch nicht erreichen,
dann hatte ich wenigstens etwas zu tun, bevor ich mich für die Silvester-Party
feinmachen mußte.
Ich legte die Unterlagen und das Video
zur Seite, stellte die Spaghetti auf den Tisch, setzte mich davor und schaltete
ein Video mit Airplane ! ein — meine verrückte Lieblingsfilmkomödie, die
mich jedesmal in Stimmung brachte. Nach einer Weile setzte sich Watney, meine
fette, alte, gefleckte Katze, auf meinen Schoß, und zusammen vertrieben wir uns
ein paar weitere Stunden des schwindenden Jahres.
9
Das schäbige braune viktorianische Haus
auf dem Hügel über der Mission Street war hell erleuchtet und wimmelte von
Partygästen, als ich am Samstagabend dort ankam. Der Kronleuchter im Wohnzimmer
und die Wandleuchten waren an, und ausnahmsweise brannten auch alle Birnen. Ein
Feuer prasselte im Kamin. Amüsiert stellte ich fest, daß jemand die Tatsache,
daß der Christbaum in der Fensternische die meisten Nadeln bereits abgeworfen
hatte, damit zu verschleiern versucht hatte, daß er noch etwas mehr Lametta
über seine Zweige drapierte. Aus dem großen Kaffeetisch war eine Bar geworden.
Das Bowlengefäß enthielt sicherlich den Bourbon-Punsch, für den ich vor langer
Zeit einmal das Rezept geliefert hatte. Und ich wußte: Wenn Hank daran mitgerührt
hatte, würde er eine doppelt tödliche Wirkung haben — und der Kaffee in der
Maschine in der Küche die doppelte Stärke.
Die Gästeschar war eine seltsame
Mischung aus All Souls-Klienten, persönlichen Freunden der Belegschaft,
Pfeilern des örtlichen liberalen Establishments und sogar vereinzelten
Republikanern. Drüben am Kamin entdeckte ich Charlie Cornish, einen
Antiquitäten- (besser: Ramsch-)Händler, der eine wichtige Rolle in meinem
ersten größeren Fall für die Kanzlei gespielt hatte. Er hob sein Punschglas, um
mir zuzutrinken, und winkte herüber. Am anderen Ende des Zimmers stand meine
alte Freundin Claudia James, die für mich den Auftragsdienst gemacht hatte, bis
sie mit der zunehmenden Popularität von Anrufbeantwortern bankrott ging. Heute
abend sah sie aus wie das blühende Leben in ihrem gefärbten Wildleder-Outfit.
Ich meinte gehört zu haben, daß sie jetzt etwas mit Computern zu tun hatte.
Ich eilte in mein Büro hinauf, warf
Mantel und Tasche über den Stuhl, ging zum Spiegel im Flur und begutachtete
mein Äußeres. Das Kleid war mein Weihnachtsgeschenk an mich selbst: rote Seide,
lange Ärmel und tiefer Ausschnitt, mit einem leicht ausgestellten, unverschämt
kurzen Rock. Das Haar hatte ich hochgesteckt, weil ich die Granatohrringe
meiner Großmutter aus der Kassette befreit hatte, in der sie sonst versteckt
lagen, und an den Füßen trug ich hochhackige schwarze Wildleder-Pumps. Alles in
allem war ich damit ziemlich weit weg von meinem üblichen
Pullover-und-Jeans-Image. So todschick, daß ich mir Hoffnungen machen konnte.
Vielleicht gab es unten ja einen interessanten Mann — einen, der nichts mit
Zen-Schießkunst oder der Gewöhnung an den Tod zu tun hatte. Meinen
»Seelenverwandten«? Nun ja, zumindest jemanden, mit dem man sich in der
Öffentlichkeit sehen lassen konnte.
Bevor ich mich unter die Gäste mischte,
ging ich in die Küche, um zu sehen, ob ich bei den Speisen helfen konnte. Jack
stellte gerade eine Platte mit Käse und Aufschnitt zusammen. Seine Augen
leuchteten auf, glänzten, als er mich sah. Sein Blick wanderte von meinem
Gesicht über den Ausschnitt zu meinen Beinen. Ich schenkte ihm ein, wie ich
hoffte, schwesterliches Lächeln.
Auch Ted war in der Küche, holte neue
Weingläser und untersuchte sie auf unsichtbare Flecken. »Toll, dein Kleid«,
sagte er.
»Danke. Und wo ist deines?«
»Kam nicht
Weitere Kostenlose Bücher