Mord ohne Leiche
ihnen
eine gebrauchte Injektionsspritze hochhielt.
Ich blieb oben auf dem Hügel und sah
hinab auf das Kriegsgebiet unter mir — ein umkämpftes Stück Erde, das
bewaffnete Drogenhändler und Süchtige den ehrenwerten Mitbürgern mit aller
Gewalt abzuringen versuchten. Vor ein paar Monaten waren in einem Bericht der
Regierung San Franciscos Sozialwohnungen als »außer Kontrolle« geraten
bezeichnet worden. Ein Beamter des Wohnungsamtes hatte der Presse gegenüber
zugegeben, auf einer Fahrt durch den weitläufigen Sunnydale-Komplex
»terrorisiert« worden zu sein. Eine Zeitlang ging eine Unmenge von Lösungsvorschlägen
für dieses Problem ein. Sie liefen im wesentlichen darauf hinaus, die
Verantwortung für das Gebiet vom Wohnungsamt auf die Polizei zu übertragen und
auf das Sozialamt und wieder zurück. Soweit ich wußte, wurde kaum etwas von den
vielen Plänen ausgeführt, und nach einer Weile hatten die Medien das Interesse
an dem Thema verloren. Falls es irgendwo in den Projects Verbesserungen gegeben
haben sollte, im Potrero Annex war davon nichts zu sehen.
Während ich so dasaß und über die
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nachdachte, die zwischen diesen barackenähnlichen
Häusern lauerte, hielt hinter mir auf der Spitze des Hügels ein auf Überlänge
umgebauter silberner Mercedes an. Der Fahrer und sein Passagier — zwei junge,
mit verspiegelten Sonnenbrillen maskierte Schwarze — wirkten über ihr Alter
hinaus abgebrüht. Das waren keine Baseballprofis, die in ihre alte Gegend
zurückkamen, um Neujahrswünsche zu überbringen. Sie waren hergekommen, um Tod
zu bringen. Dieses andere, fremdartige San Francisco war kein Ort für mich,
unbewaffnet und allein — nicht einmal am hellen Nachmittag.
Als ich zu Hause ankam, schien mir mein
mit braunen Schindeln verkleidetes Cottage am hintersten Ende der Church Street
noch um einiges einladender als sonst. Einer der Handwerker, die Anfang der
Woche wegen der Kostenvoranschläge bei mir gewesen waren, kam mir auf den
Stufen entgegen. Er sagte, er habe noch ein paar Dinge nachprüfen müssen, um
mir einen Preis nennen zu können. Der Preis war akzeptabel, und da die anderen
sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, anzurufen, sagte ich ihm, er solle
einen Vertrag fertigmachen. Er sagte, er könne am folgenden Mittwoch anfangen.
Als er gegangen war, verbummelte ich bis sechs die Zeit und rief dann im Café
Comédie an.
Marc Emmons habe sich krank gemeldet,
sagte mir Larkey. Ich wählte seine Privatnummer und hatte wieder nur den
Anrufbeantworter dran. Nicht mein bester Tag, dachte ich, und auch nicht meine
beste Nacht.
Bei meiner Rückkehr hatte das Videoband
mit Fosters Geständnis in meinem Briefkasten gesteckt, aber Rae hatte keine
Nachricht dazugelegt. Ich rief All Souls an und sprach mit Ted. Er sagte mir,
Rae sei oben im Dachgeschoß beim Spachteln und Verlegen ihrer Rigipsplatten.
»Sie sagt, sie will bis morgen abend
fertig sein, damit sie das neue Jahr in einem richtigen Zimmer beginnen kann.«
Das verstand ich, also sagte ich ihm,
er solle sie nicht stören. Dann wanderte ich lustlos hin und her und dachte
über Bobby Fosters Misere nach.
Die Todesstrafe war für mich ein
unangenehm zwiespältiges Thema. Ich stimmte mit den üblichen Gegenargumenten
überein: Eine abschreckende Wirkung war nicht erwiesen; sie wird
diskriminierend gegen Arme und Angehörige von Minderheiten angewandt; nicht
wenige waren Opfer von Fehlurteilen und wurden exekutiert; und entgegen der
Behauptung der Befürworter waren die Hinrichtungsmethoden weder schmerzlos noch
human.
Andrerseits rief der Anblick eines
blutüberströmten zusammengebrochenen Opfers eines Gewaltverbrechens einen
Ur-Zorn in mir hervor — eine atavistische Blutgier, die mich nach dem »Auge um
Auge« rufen ließ. Ich war genügend reuelosen Mördern begegnet, um zu wissen,
daß es welche gab, die nicht zu bessern waren, und schon gar nicht in einem so
überlasteten Strafjustizsystem, wie wir es in Kalifornien haben. Ich muß
gestehen, daß es Fälle gab, in denen ich dem Standpunkt »weg mit ihnen«
beigepflichtet hätte.
Heute ist der Stand der Dinge, daß in
Kalifornien seit 1967 keine Hinrichtung mehr stattgefunden hat. In dieser Zeit
sind, meinen Klienten eingeschlossen, ungefähr dreihundert Menschen zum Tod in
der Gaskammer verurteilt worden. In ein paar Jahren könnte die Wiedereinsetzung
der Todesstrafe geradezu ein Blutbad auslösen. Dann hätten meiner Meinung nach
die
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