Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord ohne Leiche

Mord ohne Leiche

Titel: Mord ohne Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
trinken.«
    Auf halbem Weg zum Punsch wurde er aber
von einer dieser Aktivistinnen beim Bürgerschutz abgefangen, und es würde lange
dauern, bis sie alle ihre kritischen Anmerkungen zur Arbeit der Polizei
angebracht hatte. Schließlich holte ich mir selber etwas zu trinken und
wanderte herum, unterhielt mich mit Freunden und erneuerte alte
Bekanntschaften. Und wartete darauf, daß wir alle gemeinsam das alte Jahr
begruben und dann nach Hause gingen.
    Die Party fing an, mich zu deprimieren.
Jedesmal, wenn ich mich umdrehte, war Jack da, sah mich sehnsüchtig an und
starrte auf meinen Busen. Hank tauchte nicht einmal aus seinem Büro auf, und
ich fürchtete schon, er könnte drinnen umgekippt sein, wollte aber auch nicht
den Eindruck erwecken, daß ich ihn kontrollierte. Gregs forschender Blick
verfolgte mich durch den Kaum, und ich hatte das Gefühl, er würde noch etwas
unternehmen, bevor der Abend zu Ende war. Meine Traumvorstellung hatte sich
nicht realisiert, und auf einen Gigolo war ich nicht gerade wild. Schließlich
stahl ich mich — es war halb zwölf — davon, holte meinen Mantel von oben, steckte
den Umschlag aus dem Zentralen Verkehrsregister in die Tasche und ging nach
Hause, um für mich allein ins neue Jahr hinüberzugleiten.
    Ich hatte eine Flasche Champagner auf
Eis gelegt — wahrscheinlich in der unbewußten Annahme, ich würde die Party früh
verlassen — und öffnete sie jetzt. Dann schaltete ich den Fernseher ein, um mir
die Feier auf dem Times Square anzusehen. Selbst die wirkte deprimierend auf
mich. Der große rote Apfel, den man dort vor einigen Jahren in einem
unbedachten Ausbruch bürgerlichen Stolzes installiert hatte, war inzwischen
wieder von der traditionellen goldenen Kugel abgelöst worden, an die ich mich
aus meiner Kindheit erinnerte. Jetzt wirkte sie plötzlich protzig auf mich. Die
betrunkenen Nachtschwärmer kamen mir blöd vor, und so spähte ich nach
Taschendieben in der Menge. Es war wie eine Erlösung, als die Kugel endlich
hinunterfiel und ich meinen einsamen Toast auf einen neuen Anfang ausbrachte.
    Da läutete das Telefon.
    Ich sah es an und fürchtete, es könnte
Jack oder Greg oder sonst jemand sein, der wollte, daß ich zurück auf die Party
käme. Oder ein weinerlicher, betrunkener Hank. Oder meine Mutter, die ich
liebe, aber die ich nicht gerade jetzt sprechen wollte. Oder, am
allerschlimmsten, falsch verbunden. Doch es konnte ja auch etwas Wichtiges
sein, und deswegen hob ich beim vierten Läuten ab.
    »Ein glückliches neues Jahr«, hörte ich
George Kostakos sagen.
    Ich spürte eine Wärme in mir
aufsteigen. »Auch Ihnen ein glückliches neues Jahr.«
    »Ich war mir nicht sicher, ob ich
anrufen sollte, aber ich wollte diesen Augenblick mit jemandem teilen — und wer
wäre dazu besser geeignet als jemand aus meiner Persönlichkeitsgruppe?«
    »Ich freue mich, daß Sie angerufen
haben. Ich könnte mir niemanden sonst vorstellen, mit dem ich diesen Augenblick
jetzt teilen wollte.«
    Wir unterhielten uns eine Weile über
Silvesterabende — über gute und schlimme, über angenehme Überraschungen und
über Enttäuschungen und Katastrophen. Wir hatten schon lange eingehängt, doch
die Wärme spürte ich immer noch.
    Ich goß mir den Rest Champagner ein und
brachte noch einmal einen Toast auf einen neuen Anfang aus.
     
     
     

10
     
    Auf dem Weg zum Justizgebäude am
nächsten Morgen, dachte ich an Tracys Buch mit den Rollenskizzen. Ich hatte es
einen Tag vor Beginn der Neujahrsfestivitäten gelesen. Es enthielt etwa fünfzig
zwei oder drei Seiten lange Beschreibungen von Frauen in jugendlichem bis
mittlerem Alter. Es waren weniger physische als psychologische Skizzen, in
denen sich die Art Einsicht wider spiegelte, wie sie ihr Vater besaß. Ihre Ausdrucksweise
brachte mich auf den Gedanken, daß sie wohl Schriftstellerin geworden wäre,
wäre sie nicht zur Comedy gegangen. Vor allem interessierte mich die erste
Eintragung, denn nachdem ich Tracys Zimmer gesehen hatte, vermutete ich, daß
sie sich darin selbst beschrieben hatte.
    Unter anderem hieß es dort: Beschreibung
des Äußeren unnötig. Sie ist überaus durchschnittlich, fast nichtssagend.
Hervorstechend ist ihre Gier — nach materiellen Dingen, nach dem Leben
als solchem. Woher diese dürftige Ausstattung? Leicht, ihrer Familie die Schuld
zu geben. Die Mutter war kalt. Sie hat sie nie in den Arm genommen. Sie wollte
ihre Mentorin sein. Aber in einer Familie braucht man keinen Mentor. Das
Mädchen

Weitere Kostenlose Bücher