Mord ohne Leiche
brauchte eine Mutter. Der geliebte Vater mit all seinem akademischen
Wissen war nur wenig besser. Unbestimmt, freundlich — abwesend. Manchmal dachte
sie, er wäre nur zur Hälfte existent.
Als ich die anderen Skizzen las, wurde
mir klar, daß Tracy eine ganze Anzahl ihrer Rollen auf bestimmte Personen
fixiert hatte. Wenn sie ihnen auch erfundene Namen gegeben hatte, erkannte ich
doch in zwei Fällen aus den wenigen physischen Details Personen, die ich
kürzlich kennengelernt hatte: Kathy Soriano, die Frau von Larkeys Partner, und
Amy Barbour.
Die interessanteste Passage über Kathy
las sich so: Der Garden Club ist nichts für sie, auch keine Ehrenämter und
das Küßchen hier und Küßchen da beim Lunch und bei der Modenschau. Sie zieht es
vor, über den Randzonen der Macht zu schweben, eine Art höherer Laufbursche im
Dienste jener, die die Macht innehaben. Sie selbst aber verfügt über keinerlei
Macht. Die gehört dem Ehemann, dem Mann mit der stahlgefaßten Brille und dem
stahlharten Blick. Er ködert sie mit seinen sanften Manieren und sieht amüsiert
zu, wie sie auf jedes Fingerschnippen angesprungen kommt, bleibt selber aber
auf Distanz. Sie weiß das alles, duldet es und revanchiert sich ein wenig durch
schmutzige kleine Affären, die einen Mann verletzen sollen, der unverletzbar
ist. Eine Bindung, die sie immer im Kreis laufen läßt, denn nie wird er ihr
Macht über ihn zugestehen — und das ist es, was sie sich am heftigsten wünscht.
Neben die Eintragung hatte Tracy mit
andersfarbiger Tinte geschrieben: Unbrauchbar. Zu hart, und wahrscheinlich
erkennt sie sich darin wieder.
Die Skizze über Amy war freundlicher,
gütiger, aber zum größten Teil immer noch verdammend: Sie ist ein armes
Ding, klammert sich an jede aktuelle Verrücktheit, hofft verzweifelt, sich
durch Äußerlichkeiten zu definieren. Die hartgesottene Fassade weicht schnell
der Wut, die Wut der Angst, und dann folgen Tränen. Ein Bündel von Zorn,
verachtet sie jeden, der sich anbietet, dafür, was ihre Eltern ihr angetan
haben, aber in Wirklichkeit verachtet sie sich selbst, weil sie glaubt, sie hat
es verdient, daß man sie vernachlässigt hat. Sie glaubt, wenn sie jemanden
findet, den sie liebt, dann gehört sie ihm. Eine Unmöglichkeit, denn sie kann
nicht einmal sich selbst lieben.
Die Eintragung hatte Tracy dünn mit
einem X durchgestrichen.
Auf den folgenden Seiten des Notizbuchs
wurden die Skizzen kürzer und sogar noch böser als die über Kathy Soriano, so
als sei Tracy die unfähig geworden, bei ihren Mitmenschen auch Humor zu
entdecken. Etwa die letzten fünf hatten nicht einmal mehr fiktive Namen. Die
letzte bestand aus nur einem Absatz.
Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht,
jedes Gefühl, auch das eigene, zu ihrem Vorteil einzusetzen. Alles ist
nützlich. Sie schläft mit diesem und jenem nur um der fremdartigen Erfahrung
willen. Mit dem nächsten schläft sie dann wieder, weil er einflußreich ist, und
jedesmal beteuert sie, es sei Liebe. Doch wenn sie ihn tatsächlich liebte,
sollte sie nicht etwas tun, um ihn zu beschützen? Ihre Unfähigkeit, zu handeln,
ist eine Art Lähmung.
Während mir diese Notizen durch den
Kopf gingen, fiel mir Laura Kostakos ein, die behauptet hatte, ihre Tochter sei
kurz vor ihrem Verschwinden außer sich und desillusioniert gewesen. Wenn ihr
Eindruck richtig war — und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln — , dann
war das wohl die Ursache für die Apathie und das Desinteresse, die sich auf
diesen letzten Seiten ihres Notizbuchs zeigten.
Ich fand einen Parkplatz direkt vor dem
Justizgebäude an der Bryant Street und eilte hinein. Normalerweise geht es dort
laut und geschäftig zu, doch an diesem Freitag ohne Gerichtsverhandlungen, an
dem nur wenige Büros schwach besetzt waren, erschien es seltsam ruhig. Ich fand
Greg oben in seinem Kämmerchen. Er sah mich vergnügt an. Vielleicht hatte er
sich mit der großen, ihn anhimmelnden Rothaarigen zusammengetan, nachdem sie die
Party verlassen hatten. Doch wie dem auch sein mochte, heute morgen gab er sich
geschäftlich, und nach einem eingehenden Verhör, wohin ich gestern abend
verschwunden sei, setzte er mich an einen Schreibtisch in einer Ecke auf dem
Gang, der überquoll von den Ermittlungsakten zum Fall Foster/Kostakos.
Ich wühlte mich mehr als drei Stunden
lang durch das Material, obwohl mir vieles davon bereits aus den Akten bekannt
war, die Fosters Pflichtverteidiger Jack überlassen hatte. Ein paar
Einzelheiten fielen
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