Mord ohne Leiche
Manchmal
hängt sie an ihren freien Abenden auch hier herum und sieht sich die
Vorstellungen an, irgendwie wehmütig. Ich glaube, sie möchte gern selbst Comedy
spielen, weiß aber, daß sie nicht das Zeug dazu hat, und deswegen treibt sie
sich eben hier am Rand herum.«
Was sie dabei wehmütig machte, dachte
ich, war wohl das Wissen, daß sie gut war und doch nie mehr auftreten konnte.
Annette Dowdall runzelte die Stirn und
zupfte am Etikett der leeren Bierflasche. »Irgend etwas stimmt nicht mit Lisa.«
»Wieso?«
»Nicht, daß sie eine Einzelgängerin
ist. Sie ist einsam. Und immer wieder habe ich das Gefühl, sie hat
Angst.«
»Wovor, glauben Sie?«
»Ich bin nicht sicher. Manchmal wirkt
sie, als sei sie... auf der Hut. Als glaube sie, jemand könnte auftauchen
und... Ich weiß nicht. Nicht jemand wie Sie, wegen einer ausstehenden Miete.
Etwas Ernsteres.«
»Etwas Schlimmes aus ihrer
Vergangenheit vielleicht. Was wissen Sie von ihr?«
»Nicht viel, nur was in ihren
Personalunterlagen steht, und nicht einmal die habe ich mir genau angesehen.
Ihr Gewerkschaftsausweis war in Ordnung, und Kellnerinnen kommen und gehen in
Läden wie diesen, das ist nichts Besonderes. Aber es gab da eine Sache...« Sie
zögerte und zupfte weiter an dem Etikett.
Ich trank einen Schluck von meinem Wein
und ließ ihr Zeit zu entscheiden, ob sie mir trauen konnte. Meine Zurückhaltung
zahlte sich aus. Sie sagte: »Da war dieser Tag im letzten August. Sie kam um
sechs zu ihrer Schicht. So früh ist noch nicht viel los, darum saß sie hier an der
Bar. Im Fernsehen gab es Nachrichten aus allen Bundesstaaten. Ich sah nicht
hin, sondern machte meinen Papierkram. Aber sie sah zu und war plötzlich ganz
außer sich. Sie rang nach Luft und wurde blaß. Ich fragte sie, was los sei,
aber sie wollte nichts sagen. Und den Rest ihrer Schicht arbeitete sie ab, als
wären wir hier in einem Beerdigungsinstitut und nicht in einem Comedy Club. Ich
habe ihr schließlich gesagt, sie solle früher nach Hause gehen.«
»Sie erinnern sich an nichts aus den
Nachrichten?«
»Nein, wenn ich mit Zahlen zu tun habe,
blende ich alles andere mehr oder weniger aus.«
Im August war Bobby Foster für den
vermeintlichen Mord an Tracy zum Tod verurteilt worden. Der Fall hatte
landesweit Aufsehen erregt, weil es sich um ein »Urteil ohne Leiche« gehandelt
hatte. Wahrscheinlich hatte Tracy davon in den Nachrichten gehört und war
entsetzt. Dennoch hatte sie sich nicht hervorgetraut.
»Ist... Lisa für heute abend zur Arbeit
eingeteilt?« fragte ich.
Annette Dowdall schüttelte den Kopf.
»Können Sie mir wohl ihre Adresse und
Telefonnummer geben?«
Sie zögerte ein bißchen länger und
sagte dann: »Sie hat kein Telefon — sie hat irgendwelche Gebühren nicht
bezahlt, und die Nummer wird erst wieder freigegeben, wenn das erledigt ist.
Aber ich glaube, es ist schon in Ordnung, wenn sie zu ihr gehen. Sehen Sie sich
an, wie sie lebt, dann wissen Sie, daß es nur richtig ist, wenn Sie darum
bitten, daß man sie gnädig behandelt.« Sie nahm eine Cocktailserviette von
einem Stapel und kritzelte etwas darauf. »Das ist gleich die Straße hinunter — Tropic
Palms.«
»Danke.« Ich nahm die Serviette. »Darf
ich den Drink bezahlen?«
»Nein«, sagte sie. »Der geht auf Kosten
des Hauses.«
Ich bedankte mich noch einmal, sagte,
ich sei sicher, daß wir mit Lisa eine Regelung fänden, und ging hinaus in die
hereinbrechende Dämmerung.
Das Tropic Palms war älter und
schäbiger als die Häuser, die ich zuvor in dem Wohnbezirk gesehen hatte:
zweistöckig in imitiertem spanischem Stil, und es lag auf derselben Seite wie
der Comedy Club. Die eine Wand des Eingangsbereichs zierten Briefkästen. Einige
von ihnen waren offensichtlich aufgebrochen worden. Von der gewölbten Decke
hing eine schwere, schmiedeeiserne Lampe an einer massiven Kette. Die Birnen
waren entzwei. Das Haus hatte kein Sicherheitstor und keinen elektrischen
Türöffner.
Ich ging durch den Bogengang in den
Hof. In der Mitte lag der beleuchtete Swimmingpool — ein grünlich trüber, mit
Kies eingefaßter Tümpel. Scheinwerfer beleuchteten ein paar tropische Pflanzen.
Ihre zarten Blätter zitterten im kalten Wind, der durch den geschlossenen Hof
fegte. Wegen des Winters standen rostende Gartenmögel ohne Polster wie Skelette
um den Pool.
Die auf der Serviette notierte Nummer
des Apartments war 209. Am hinteren Ende des Hofs führte die Haupttreppe nach
oben. Ich ging am Pool entlang und stieg hinauf.
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