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Mord ohne Leiche

Mord ohne Leiche

Titel: Mord ohne Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Oben zeigte ein Schild nach
links zu den Nummern 201-221. Ich folgte ihm, und die Angst, die ich schon
während der Fahrt gehabt hatte, verstärkte sich. Als ich vor 209 stand und auf
den Klingelknopf drückte, hämmerte mein Herz.
    Nach ein paar Sekunden rief jemand, ich
solle warten. Die Stimme war flach und stumpf — ganz anders als die kraftvolle,
die ich von Tracys Videobändern kannte. Natürlich konnte sie sich verändert
haben...
    Die Tür ging auf, und wir standen uns
gegenüber.
    Die Frau vor mir war erschreckend dünn.
Die Knochen ihres herzförmigen Gesichts traten stärker hervor als vor zwei
Jahren, die Wangen waren hohl. Ihre hellbraunen, lockigen Haare schienen vom
eigenen leblosen Gewicht herabgezogen. Als sie mich, eine Fremde, ansah,
blinzelte sie und schob ihr Kinn mit einem Ruck nach oben.
    Das war nicht Tracy Kostakos.
    Das war tatsächlich Lisa McIntyre.

22
     
    Einen Augenblick lang starrte ich sie
nur mit offenem Mund an. Sie runzelte die Stirn und trat ein Stück hinter die
Tür zurück, als wollte sie sie als Schild benutzen. Ich hatte meine Stimme
wiedergefunden und sagte: »Lisa McIntyre?«
    Sie nickte traurig.
    Ich suchte in meiner Handtasche nach
meinem Ausweis und versuchte, diese neue Entwicklung mit meinen bisherigen
Erkenntnissen in Einklang zu bringen. Es gelang mir nicht. Da stand Lisa — leibhaftig.
Aber der Polizeiarzt von Napa County hatte Skeletteile gefunden, die mit ihrem
zahnärztlichen Befund übereinstimmten. Nachdem jene Knochen aber nicht Lisas
sein konnten...
    Ich stellte mich vor und reichte ihr
meinen Ausweis. Sie studierte ihn, als wäre er in einer fremden Sprache
verfaßt. Dann gab sie ihn mir zurück. »Worum geht es?« fragte sie. Außer einem
leichten Näseln, das ihr aus ihrer Jugend in Oklahoma geblieben war, war ihre
Stimme merkwürdig modulationsarm.
    »Ms. Dowdall vom Club gab mir Ihre
Adresse — «, fing ich an.
    »Sie haben mit Annette gesprochen?
Wieso konnte sie... Was wollen Sie von mir? Ich habe nichts verbrochen.«
    Mit den Fragen, die ich mir im Flugzeug
zurechtgelegt hatte, konnte ich jetzt nichts mehr anfangen. Die Szene, die ich
mir vorgestellt hatte, hatte sich nicht realisiert. Ich sagte: »Ich arbeite am
Fall Bobby Foster, im Auftrag seines Anwalts.«
    Sie erstarrte. »Bobby... Man hat ihn
zum Tode verurteilt.«
    »Es wurde Berufung eingelegt. Wir haben
Beweise dafür gefunden, daß sein Geständnis falsch war. Ich spreche mit jedem,
der an dem Abend im Café Comédie war. So können wir stückweise rekonstruieren,
was tatsächlich mit Tracy Kostakos passiert ist.«
    »Ich... Ich weiß nichts darüber.«
    »Vielleicht wissen Sie mehr, als Ihnen
bewußt ist. Darf ich hineinkommen und mich mit Ihnen unterhalten?«
    Man sah ihr an, daß sie nichts lieber
getan hätte, als die Tür zuzuschlagen, aber sie zuckte mit den Achseln und bat
mich mit einer Handbewegung herein. In der Geste steckte Teilnahmslosigkeit,
und die Resignation im Blick ihrer braunen Augen sagte mir, daß Lisa in einer
brenzligen Situation gewöhnlich den Weg des geringsten Widerstands gehen würde.
    Das Apartment war genauso trostlos, wie
Annette Dowdall gesagt hatte. Der Raum war kaum mehr als dreieinhalb mal
dreieinhalb Meter groß. Den meisten Platz nahm ein aufgeklapptes und zerwühltes
Schrankbett ein. An einer Wand gab es eine Kochnische mit einer Frühstückstheke
voll schmutziger Tassen, Gläser und Tabletts von Tiefkühlkost. Durch die
halboffene Tür zum Badezimmer sah man ein Durcheinander von herumliegenden
Kleidungsstücken und Handtüchern. Der winzige Balkon bot einen Ausblick auf
sein gegenüberliegendes Ebenbild. Auf einem Schwarzweißfernseher flimmerten die
verschneiten Bilder einer Game-Show. Lisa ging hin und knipste ihn aus.
    Erdrückt von der Atmosphäre der
Hoffnungslosigkeit in dieser Enge, sah ich mich nach einer Sitzgelegenheit um.
Neben der Balkontür stand ein Rattansessel mit einem Korb schmutziger Wäsche
darauf. Lisa sagte: »Stellen Sie das Zeug einfach da drüben hin«, und machte
die Badezimmertür zu.
    Ich stellte den Wäschekorb auf den
Boden und setzte mich. Lisa sah mich an. Sie hatte eine Abwehrhaltung
eingenommen, als erwarte sie von mir eine Bemerkung über den chaotischen
Zustand ihrer Wohnung. Als ich nichts sagte, meinte sie: »Ich könnte uns einen
Kaffee kochen.«
    »Ich möchte Ihnen keine Umstände
machen.«
    Sie nickte sichtlich erleichtert. Ich
hatte den Verdacht, daß ihr die meisten Dinge zuviel Umstände machten.

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