Mord unter den Linden (German Edition)
abzuschütteln und weiterzugehen.
Um sich den Hang
hinaufzuziehen, griff er nach einem Zweig. Er brach, und ein lautes Knacken
ertönte. Otto ruderte mit den Armen und rutschte über die lockere Humusschicht.
Ein Vogel schnellte von einem Ast hoch und stieß ein Krächzen aus, das, so kam
es Otto jedenfalls vor, meilenweit zu hören war. Im letzten Moment fing er sich
ab und fiel auf die Knie. Er ärgerte sich über seine Ungeschicklichkeit,
rappelte sich aber rasch auf und kletterte weiter.
Bald stieß er auf
den Weg, der den Wirtschaftshof mit der Hundingshütte und der
Aussichtsplattform verband. Der schmale Pfad schlängelte sich zwischen Kiefern
hindurch. Otto ging links entlang und spähte immer wieder in alle Richtungen.
Im Unterholz raschelten Blätter, und neben einem Felsen hockte ein Tier mit
funkelnden Augen und starrte ihn an.
Mit der Hand wischte
er sich über die schweißnasse Stirn und verteilte dabei Erde und Kiefernnadeln
auf der Haut. Das Jucken irritierte ihn.
Reiß dich
zusammen, ermahnte er sich. Der Weg machte nun eine Kurve, dann erreichte Otto
eine Waldlichtung, die im Mondlicht unwirklich, beinahe jenseitig wirkte.
Otto stellte sich
hinter eine Fichte und spähte zur Aussichtsplattform hinüber. Sie war etwa
fünfzehn mal fünfzehn Meter groß. Links dahinter erkannte er zwei halbierte
Stämme, die Ausflüglern als Bänke dienten und die im rechten Winkel zueinander
standen. Davor befand sich eine offene Feuerstelle. Verkohlte Scheite ragten
über einige kreisförmig angeordnete Bruchsteine.
Otto trat aus dem
Schatten. Sein Herz schlug laut wie eine Kirchenglocke, und in seinen Ohren
rauschte das Blut. Langsam ging er zur Aussichtsplattform. Dort drehte er sich
um und fragte leise: »Ist da jemand?«
In diesem Moment
ertönte ein Knacken. Otto sah, wie in dem Gebüsch neben ihm jemand Zweige
auseinanderdrückte. Eine Gestalt zwängte sich aus dem Dickicht.
Es war ein
Matrose. Er trug weiße weite Hosen, ein kurzärmeliges Kattunhemd und eine
verfilzte Mütze. In seinem Ohr glänzte ein Goldring. Auf seinen muskulösen
Unterarmen prangten Tätowierungen mit Südseemotiven. Dann trat ein zweiter Mann
neben ihn. Er war genauso gekleidet wie der erste, nur war er deutlich kleiner.
Auf seinem Schädel sprossen nur wenige Haare, die so dick und kratzig wie
Schweineborsten aussahen. Beide rochen nach saurem Schweiß.
Otto sah von einem
zum anderen. »Die Matrosen aus Fürstenberg«, sagte er.
»Halt's Maul«,
sagte der Tätowierte und zielte mit einer doppelläufigen Pistole auf ihn.
Im Tiergarten
Mondlicht fiel auf
den Teich. Vitell kniete am Ufer und sah sein Spiegelbild an. Zögerlich drehte
er den Kopf nach links und nach rechts. Die Ohren, die Augen und Wangen
gehörten zweifellos ihm. Tausendmal hatte er sie schon betrachtet. Trotzdem
nagte das Gefühl an ihm, dass Körper und Geist keine Einheit bildeten. Ich bin
nicht ich , dachte er. Vitell hatte zwar keine Ahnung,
wer er sonst war, er wusste nur: Ich bin nicht ich.
Diese Erkenntnis überrollte ihn mit der Wucht eines Güterzugs.
Verzweifelt schlug
er mit der Hand auf das Wasser und kam auf die Beine. Der steinerne Himmel
schwankte. In seinen Ohren stellte sich jenes hohe Summen ein, das seine Nerven
aufs Äußerste strapazierte. Die Distanz zur übrigen Welt wurde immer größer. Am
liebsten würde er sich das Messer ins Bein rammen, nur um etwas zu spüren.
Was mache ich
eigentlich hier?, dachte er plötzlich erschrocken. Wie bin ich hergekommen? Die
Momente, in denen er keine Orientierung mehr hatte, häuften sich. Oft fehlten
ihm nur wenige Minuten, manchmal, so stellte er später entsetzt fest, sogar
mehrere Stunden. Immer häufiger konnte er nicht unterscheiden, ob er träumte oder
wachte.
So unvorbereitet
wie jedes Mal spürte er plötzlich Erschütterungen. Etwas näherte sich ihm, aus
allen Richtungen, so als hätte ihn ein Rudel urzeitlicher Dinosaurier
umzingelt. Gehetzt sah er sich um, suchte nach einem Fluchtweg, aber er wusste
längst, dass er ihrer Stimme nicht entkommen konnte. Eine eisige Kälte bildete
sich in seinem Nacken und rann ihm zwischen den Schulterblättern hinab.
»Bitte nicht«,
sagte Vitell.
Die Stimme redete
auf ihn ein, zuerst leise, sanft und zärtlich, dann wurde sie immer fordernder,
lauter und zorniger, bis die Befehle, der Spott und die Beschimpfungen in einem
unerbittlichen Stakkato auf ihn einhackten. Vitell schloss die Augen. Er
presste seine Hände auf die Ohren. »Hör endlich
Weitere Kostenlose Bücher