Mord unter den Linden (German Edition)
schwach sein würde. Da sah sie seine andere Hand. Dick wie
Mettwürstchen lagen seine Finger auf dem Boden. Rieke hob den Fuß an und trat
mit dem Absatz auf sie.
Jewgeni jaulte auf
und ließ sie los.
Sie war frei.
Rieke rannte zur
Tür hinaus, schlug sie zu und stürmte den langen Korridor entlang. Die
Zimmertüren links und rechts von ihr flogen an ihr vorbei. Zwischen ihr und der
Treppe lagen nur noch wenige Meter. Sie hatte es gleich geschafft. Sie musste
nur noch hinunterlaufen, sie musste nur die Haustür erreichen. Wenn sie erst im
Freien war, konnte sie um Hilfe rufen.
Da ertönte in
ihrem Rücken ein Poltern. Entsetzt drehte sie sich um und sah Jewgeni in den
Flur schwanken. Er war leichenblass. Er hustete, er taumelte hin und her und
riss einen Öldruck von der Wand. Seine linke Hand hielt er vor sein Gemächt,
als wollte er sich vor einem weiteren Angriff schützen.
Rieke stürzte die
Stufen hinunter. Sie nahm zwei auf einmal. Nackte Panik trieb sie an. Raus
hier, dachte sie. Nur raus! Auch Jewgeni hatte die Treppe erreicht. Sie hörte
ihn hinter sich schnaufen. Doch Rieke drehte sich nicht um. Jede Sekunde
zählte. Sie nahm die letzten vier Stufen im Sprung, rutschte über das Parkett
und rannte durch die Halle.
Da öffnete sich
die Tür.
Ihre schlimmsten
Befürchtungen bewahrheiteten sich.
Karl kam nach
Hause.
Wie ein Monument
aus Stein stand er im Türrahmen und starrte sie an.
Rieke sah sich
hektisch um. Sollte sie versuchen, durch den Seitenflügel zu entkommen? Nein,
die Männer würden sie einholen. Rieke machte sich keine Illusionen. Ihre Flucht
war gescheitert.
»Wo willst du
hin?«, fragte Karl mit tonloser Stimme. Er sah aus wie ein Bote aus einer
anderen Welt.
»Karl«, sagte sie.
»Bitte!«
Jewgeni hatte die
Eingangshalle erreicht. Er packte sie am Oberarm und drückte schmerzhaft zu.
»Sie hat Feuer gelegt, Herr. Eine der Mädchenkammern steht in Flammen.«
»Geh und lösch das
Feuer«, sagte Vitell und schloss langsam die Tür hinter sich. Sein Gesicht
wirkte jetzt wächsern. Die Augen waren teilnahmslos und stumpf, wie die eines
Toten.
»Karl«, sagte
Rieke, »was ist mit dir?«
Er antwortete
nicht, seine Pupillen blieben unbewegt, aber in seiner Hand hielt er ein langes
Messer. Er hob es langsam an.
Schluchzend drehte
Rieke sich weg und schlug die Hände vors Gesicht. »Ach, Karl! Lieber Karl! Was
ist nur aus dir geworden?«
Sie erwartete
jeden Moment einen schrecklichen Schmerz, aber er blieb aus. Sie nahm die Hände
herunter und sah, wie seine Mundwinkel zuckten, wie das Messer ihm aus der Hand
fiel. Die Spitze bohrte sich in das Parkett. Seine Finger spreizten sich wie
bei einem spastischen Anfall. Speichelbläschen perlten über seine Unterlippe.
»Karl«, sagte sie.
»Mein Gott, was ist mit dir?«
»Verschwinde«,
sagte er und zuckte unkontrolliert mit dem Kopf. »Ich will dich nicht mehr
sehen.«
Rieke verstand gar
nichts mehr. Sie wusste nur eines: Sie musste hier weg. Bevor er es sich anders
überlegen konnte, rannte sie los. Sie riss die Tür auf, verließ das Haus,
überquerte den Kemperplatz und sah in der Tiergartenstraße etwa dreihundert
Meter von ihr entfernt zwei Gendarmen stehen. Einer der Polizisten hob seine
Hand und machte ein Zeichen, so als wolle er sie zum Stehenbleiben bewegen.
Doch als sie im Schatten der Bäume weiterlief, machten die beiden keine
Anstalten, ihr zu folgen.
Sie rannte weiter.
Sie musste nach Hause. Dort, im Hinterhof, hatte sie eine kleine Blechkiste
vergraben, in der sie das ganze Geld aufbewahrte, was Karl ihr im Laufe der
Jahre zugesteckt hatte. Jetzt brauchte sie es, um für ein paar Tage
unterzutauchen. Sie musste überlegen, wie es weitergehen sollte.
Auf Sandwerder
Ferdinand hatte
Ottos Pfiff gehört. Er tauchte aus einem Erdloch auf, riss das bereitliegende
Schwefelhölzchen an und hielt es unter die Schnüre, die er auf eine Länge von
wenigen Millimetern gekürzt hatte, damit die Treibladungen sofort zündeten. Mit
einem Jaulen schossen die Raketen in die Nacht und zerbarsten am schwarzen
Himmel. Rote, gelbe und blaue Funken sprühten in alle Richtungen.
Gleichzeitig
kletterte Moses aus einem zweiten Erdloch und brach durch das Gebüsch. In der
linken Hand schwenkte er das Bowiemesser, in der rechten Hand einen Revolver.
In seinem schwarzen Gesicht leuchtete das Weiß seiner weit aufgerissenen Augen.
Brüllend stürmte er heran, um seinem Dienstherrn und Freund beizustehen.
Auch der
Commissarius hievte sich aus
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