Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
eine Tasche mit Perücken und Abendkleidern.«
Michelle André streckte die Hand nach der Platte aus, nahm ein Kanapee und biss vorsichtig ab.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, finden Sie vielleicht. Ich will nicht auf irgendwelche Einzelheiten eingehen. Wir haben überlebt, und das war gut so. Mein eigenes Kind wurde nicht aus Geldmangel heraus gezeugt, sondern aus einer Lust und Leidenschaft heraus, die ich nicht zu beherrschen gelernt hatte. Meine Mutter starb, ohne erfahren zu haben, dass ich schwanger war. Sie war krank, und ich wollte nicht, dass ihre letzte Zeit von Unruhe getrübt würde. Hatte sie als alleinerziehende Mutter überlebt, dann würde ich das auch tun. Dass ich dann in Schweden gelandet bin, ist eine andere Geschichte. Ich arbeitete in einem Restaurant. Dort lernte ich eine Familie kennen, die mir anbot, in ihrem Hotel in Sollefteå zu arbeiten. Sie suchten Sommeraushilfen aus dem Ausland. Offenbar gab es viele Soldaten in der Stadt, die gerne Geld ausgaben, wenn sie frei hatten. Eine sehr gewagte Initiative, aber das waren Menschen, die unkonventionell dachten. Vielleicht Menschen wie ich. Ich hatte nicht viel zu verlieren. Ich kam also hierher, und eine Woche später lernte ich meinen Mann kennen, als er Waren für das Hotel
lieferte. Ich bekam so etwas wie ein geordnetes Leben für mein Kind und mich, obwohl der persönliche Preis dafür hoch war.«
»Wusste der Mann, den Fredrik seinen Papa nannte, dass er nicht Fredriks Vater war?« Annas Frage klang gespannt. Michelle André lächelte vorsichtig.
»Schwer zu sagen. Wissen und Verstehen sind zwei verschiedene Dinge. Er fragte mich nie, und ich beantwortete seine unausgesprochene Frage auch nie. Fredrik war mir sehr ähnlich mit Ausnahme der Haare, die glücklicherweise dieselbe Farbe hatten wie die meines Mannes. Aber natürlich muss er einen Verdacht gehegt haben. Die beiden waren sehr unterschiedlich. So unterschiedlich wie zwei Männer nur sein können. Ich stand zwischen ihnen.«
»Wusste Fredrik Bescheid?«
»Ich habe ihm natürlich nichts erzählt. Ob er etwas geahnt hat, weiß ich nicht. Aber er hätte nie gefragt. Das wäre unverschämt und vulgär gewesen. Fredrik war nicht so.«
Zum ersten Mal meinte Mari in der Stimme ein Gefühl auszumachen. Der weiche Fluss der Konsonanten und Vokale war einen Augenblick lang von etwas anderem durchschnitten worden. Trauer oder Reue? Gab es etwas zu bereuen? Dass sie Fredrik Luft vor der Wohnzimmertür hatte spielen lassen, während sie ihre Freunde mit ihrem Gesang und Klavierspiel beeindruckt hatte? Dass sie die Angelegenheit in eine lustige Anekdote verwandelt hatte, über die alle gelacht hatten?
»Die beiden waren wie gesagt sehr verschieden. Mein Mann war ein rauer Mensch. Der Urtypus einer gewissen Sorte urtümlichen Mannes, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er gab sich zwar Mühe in meiner Gegenwart, und es gelang ihm, die schlimmsten Unarten einzudämmen, aber von einer Verwandlung konnte nicht die Rede sein. Fredrik schlug nach mir und seinem richtigen Vater. Einem Musiker. Natürlich war mein
Sohn eine Enttäuschung für meinen Mann. Ein Junge, der sich lieber Perücken aufsetzte als im Wald zu jagen.«
Damit war es gesagt, und es gab kein Zurück mehr. Michelle André schien das einzusehen.
»Die Polizei hat mich darüber informiert, wie er gekleidet war und womit er sich beschäftigte. Ich mache ihm keine Vorwürfe. Fredrik war auf seinem Gebiet sicher sehr gut. Das war sein Vater auch. Hätte Fredrik seine künstlerische Seite ausleben dürfen, wäre vieles sicher anders gekommen. Sobald er das Missfallen meines Mannes erregte, suchte er Zuflucht bei den Perücken. Ich wusste das, aber ich versuchte auch, ihn zu beschützen. Ich habe viele Fehler gemacht, das gebe ich zu, aber ich habe getan, was ich konnte. Und doch war es natürlich ein ungleicher Kampf. Außerdem musste ich auch an mich selbst denken.«
Sie sprach dies aus, als wäre es das Natürlichste und Selbstverständlichste auf der Welt. Ich will überleben. Ich will, dass man sich an mich erinnert.
»Aber dann kam dieses eine Mal. Fredrik glaubte, er sei sicher. Mein Mann wollte eine längere Wanderung machen, und ich unterrichtete in der Schule. Fredrik war allein zu Hause und nutzte die Gelegenheit. Er hatte eine der Perücken aufgesetzt und eines meiner Kleider geliehen. Mein Parfüm benutzt. Er trug eine Perlenkette und hatte eine Zigarette in das Mundstück gesteckt, das meine Mutter auf diesem
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