Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
sechzig, wirkte aber mindestens zehn Jahre jünger. Ihr blondes Haar war geflochten, ihre Haut bleich, und ihre wenigen Falten unterstrichen nur, wie glatt ihre Haut im Übrigen war. Ihre geschwungenen Lippen waren rot geschminkt. Ihr weinrotes Kleid reichte bis zu den Knöcheln, und ein Paar Schuhe mit hohen Absätzen ließen ihre schlanken Beine in exklusiven Nylonstrümpfen noch länger erscheinen. Sie hatte die Augenbrauen gezupft und mit einem Strich nachgezogen, und Mari wusste plötzlich nicht, ob sie selbst oder die Frau in der Tür deplatziert war. Sie schaute in ein Paar blaue Augen und hoffte, etwas wiederzuerkennen, sah aber nur ihr eigenes Spiegelbild. Die Frau hielt ihr die Hand hin.
»Ich bin Michelle André. Sie müssen Anna und Mari sein. Treten Sie doch ein. Den Winter hier im Norden muss man wirklich gewohnt sein. Aber ich habe ein Feuer im offenen Kamin brennen.«
Ihre Stimme und Diktion erinnerten sehr an die von Fredrik mit Ausnahme eines ganz schwachen französischen Akzents. Sie trat beiseite, um sie hereinzulassen, und betrachtete sie dann aus einigen Metern Entfernung. Tat sie das wirklich? Sie schaute zwar in ihre Richtung, aber ihr Blick wirkte irgendwie seltsam. Ihre Pupillen schienen erstarrt zu sein, ihre Lider regten sich nicht, und die getuschten Wimpern erinnerten an die einer Puppe. Jetzt lächelte sie.
»Haben Sie Ihre Mäntel aufgehängt? Dann können Sie eintreten. Ich habe im Wohnzimmer gedeckt. Falls Sie nach der Reise hungrig sind.«
Anna und Mari folgten Fredriks Mama zur Wohnzimmertür. Michelle André bewegte sich anmutig, aber konzentriert, als hätte sie jeden Schritt lange im Voraus geplant. Die Türen zu den anderen Zimmern waren geschlossen. Hier würden sie nur zu sehen bekommen, was ihnen ihre Gastgeberin gestattete, und das, obwohl ein Willkommensfeuer im Kamin brannte.
Mari trat ins Wohnzimmer. Es war schöner, als das graue Äußere des Hauses hatte erwarten lassen. Hier gab es keine ramponierten Möbel oder fleckigen Kissen. Der Raum wurde von einem großen schwarzen Flügel und einem Bücherregal mit Büchern und Noten dominiert. Der flauschige Teppich war rot, und die verschnörkelten Jugendstilmöbel erinnerten an das Fata Morgana. Im Fenster stand eine Lampe mit einem Lampenfuß in Form einer Frau, die stark an die Besitzerin des Hauses erinnerte. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. Tee und eine Platte mit Kanapees. Croissants und Marmelade gab es auch. Fredriks Mama nahm auf dem einen Sofa Platz, schlug die Beine übereinander und bat sie mit einer Handbewegung,
ebenfalls Platz zu nehmen. Ihre Schuhe ließen Annas und Maris Socken vulgär erscheinen.
Sie setzten sich, und als Michelle André sie aufforderte, zuzugreifen, gossen sie den heißen Tee in die zierlichen Tässchen. Er duftete aromatisch. Es war ein sehr guter Tee. Die Frau auf dem Sofa schien sie immer noch ebenso unsehend zu beobachten wie zuvor. Vorsichtig goss sie sich selbst Tee ein und lehnte die Tülle der Kanne dabei auf den Rand der Tasse. Michelle André hatte lange Fingernägel, die in der Farbe ihres Kleids lackiert waren.
»Es ist wirklich bedauerlich, dass wir uns unter so tragischen Umständen kennenlernen. Ich weiß, dass Sie gute Freundinnen von Fredrik waren, und ich weiß es zu schätzen, dass Sie hergekommen sind. Es ist eine lange Reise von Stockholm in diese nördliche Wildnis. Ich erinnere mich noch, wie ich das erste Mal hierherkam. Ich dachte, das hier ist das Ende der Welt. Ganz falsch war das nicht.«
»Wie lange haben Sie hier gewohnt?«, fragte Anna, nachdem alle einige Sekunden geschwiegen hatten.
»Ziemlich genau vierzig Jahre. Überraschend, nicht zuletzt für mich. Ich komme eigentlich aus Paris und bin immer noch Französin, zumindest habe ich noch einen französischen Pass. Aus irgendeinem Grund hatte ich nie Lust, die schwedische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ich hätte sie natürlich bekommen. Haben Sie etwas dagegen, dass ich rauche?«
Beide verneinten, und Michelle André erhob sich und kehrte wenig später mit einer Schachtel Gauloises zurück. Sie zündete sich eine Zigarette an und inhalierte genüsslich.
»Einmal Französin, immer Französin. Das hat mein Mann immer gesagt. Er ist tot. Seit etlichen Jahren.«
Mari starrte auf die Croissants, die sehr knusprig wirkten. Sie hatte immer noch keinen Hunger, nahm aber trotzdem eins, mehr um das Unbehagen zu zerstreuen, das ihr die gesamte Situation eingab. Die deplatzierte Frau vor ihr
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