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Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm

Titel: Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Ernestam
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ließ
keinerlei Trauer erkennen. Sie ließ überhaupt keine Gefühle erkennen. Sie biss ab, was ein knusperndes Geräusch verursachte. Michelle André lächelte.
    »Etwas Zivilisation müssen wir schließlich auch hier in der Wildnis aufrechterhalten. Ich koche gerne. Fredriks Interesse an ›Cuisine‹ hat er von zu Hause mitbekommen, auch wenn man das nicht meinen sollte.«
    Wieder wurde es so still, dass Mari das Gefühl hatte, das Geräusch des zerkrümelnden Croissants würde das ganze Zimmer erfüllen. An den Wänden hingen Schwarzweißfotos von Paris, wahrscheinlich während des Zweiten Weltkriegs oder kurz danach aufgenommen. Auf einigen waren Gruppen von Soldaten zu sehen. Michelle André schien zu ahnen, was sie dachte.
    »Meine Mutter war eine Deutschenhure, so hieß das damals. Sie war eine hervorragende Sängerin und Tänzerin. Damals gab es auch sehr seriöse Etablissements. Der deutsche Mann, in den sie sich verliebte, war auch nicht jemand, den sie in irgendeinem Bordell kennengelernt hätte, sondern ein hochrangiger Offizier. Er machte sie zu seiner Geliebten und ersparte ihr damit ein viel schlimmeres Schicksal. Sie war Jüdin, sollte ich vielleicht noch erwähnen. Als Jüdin konnte man damals nicht so wählerisch sein.«
    Sie führte die Tasse zum Mund und schluckte vorsichtig.
    »Er war ehrlich. Zu Hause hatte er Familie und Kinder. Nach Ende des Krieges wollte er zu ihnen zurückkehren. Damit hielt er nicht hinterm Berg. Meine Mutter gab sich damit zufrieden. Mit einem Leben in bescheidenem Luxus, während andere hungerten oder starben. Dass sie mit ihm schlafen musste, wenn er das wollte, diesen Preis war sie bereit zu zahlen. Sie liebte ihn. Jedenfalls sagte sie mir das, und ich glaubte ihr. Meine Mutter war eine sehr ehrliche Frau. Manchmal sogar brutal ehrlich. Aber das war mir immer lieber.«
    Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. Ihre
durchsichtigen Augen schienen die Gegenwart vergessen zu haben, als blickten sie zurück und nicht voraus. In zweierlei Hinsicht.
    »Er machte seine Ankündigung wahr und verschwand zu Kriegsende. Ohne zu wissen, dass ich unterwegs war, muss ich zu seiner Verteidigung sagen. Ironie des Schicksals, nicht wahr? Dass sie ganz am Ende des Krieges noch schwanger wurde, nachdem sie so lange verschont geblieben war. Verschont ist vielleicht das falsche Wort. Vermutlich wollte sie ja ein richtiges Andenken an ihn haben. Er hatte ihr schließlich das Leben gerettet. Sie war ihm dankbar dafür und erlaubte sich keine Bitterkeit. Sie sagte immer, Bitterkeit sei das nutzloseste Gefühl, dem sich der Mensch hingeben könne. Das ist sehr wahr.«
    Michelle André ließ ihr Silberarmband kreisen, und die schweren Anhänger klirrten. Es wirkte alt, und das Silber war stellenweise schwarz angelaufen.
    »Sie fragen sich sicher, warum ich von meiner Mutter spreche, wo ich doch von meinem Sohn sprechen sollte. Aber ich habe den Eindruck, eine Erklärung sei angebracht. Als der Krieg zu Ende und mein Vater nach Hamburg zurückgekehrt war, gab es niemanden mehr, der meine Mutter beschützt hätte. Es war kein Problem mehr, Jüdin zu sein, aber es war ein Problem, eine Affäre mit einem Deutschen gehabt zu haben. Trotzdem kam sie relativ glimpflich davon. Sie rasierten ihr zwar den Kopf, aber ihr blieb das Teeren und Federn erspart. Andere hatten nicht dasselbe Glück. Vielleicht half es ihr ja, dass sie einen dicken Bauch hatte. Schließlich gibt es Grenzen dafür, wie man eine Schwangere behandelt. Wollen Sie sehen, wie sie aussah?«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie auf eine der geschlossenen Türen zu. Sie streckte die Hand aus, berührte die Tür, ließ die Finger sinken und berührte die Klinke. Wenig später kehrte sie mit einem Foto in einem verschnörkelten
Rahmen zurück, das sie Mari reichte. Anna und sie betrachteten schweigend eine schöne Frau in bodenlangem Seidenkleid, mit Pelzstola und Zigarettenspitze. Sie hatte den Kopf etwas zurückgelehnt, und ihr langes Haar fiel ihr über die Schultern auf den Rücken. Es reichte ihr bis zur Taille.
    »Es war kastanienbraun. Es tut mir leid, dass ich es nie gesehen habe. Aber andere haben es mir erzählt. Anschließend war es nie mehr so schön wie vorher. Vielleicht lag das auch an der Lebensmittelknappheit. An der täglichen und nächtlichen Arbeit und vielleicht auch an der Trauer. Sie glich das durch Perücken aus. Als sie starb und ich nach Schweden kam, hatte ich nicht viel Gepäck. Ein Kind im Bauch. Und

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