Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
verstummte. Sie dachte, dass sie vielleicht unbewusst das falsche Wort gewählt hatte.
»Hast du je das Gefühl gehabt, alles sei möglich?«, fragte sie stattdessen. »Dass es möglich ist, diese verdammte Welt zu besiegen und mit ihrer Forderung fertigzuwerden, sich einzufügen und sich nicht zu überheben. Alle hatten einen Platz in der Hierarchie, aber meiner war nicht zu sehen. Das hatte ich zu Hause gelernt. Ich kann nicht sagen, dass meine Eltern mich nicht geliebt hätten. Auf ihre Art taten sie das sicher. Aber auf eine subtile Art waren sie egozentrisch. Sie hatten ihre Arbeit, ihre Einladungen, ihr politisches Engagement und ihre Freunde. Sie galten als gute Menschen. Aber eigentlich waren sie nur nett, weil es ihnen etwas nützte. Mich wollten sie als ihr braves Kind vorführen, aber ich durfte bei Gott nicht stören. Ich durfte ihr Leben nicht durcheinanderbringen. Meine Geschwister kamen besser damit klar. Mein Bruder war sportlich und intelligent, meine Schwester schlank und ätherisch. Mich haben sie irgendwie nie wahrgenommen. Es kam vor, dass ich herumging und mich in allem, was ich finden konnte, spiegelte, um mich davon zu überzeugen, dass ich ein Gesicht besaß.«
Anna erwiderte nichts, und sie fuhr fort.
»David erzählte häufig von einem Tiefseefisch, der Ceratias holboelli heißt. Er lebt in extremen Meerestiefen in vollkommener Dunkelheit. Dort ist jede zufällige Begegnung so wichtig, dass man sie nutzen muss. Findet ein Männchen dieser Spezies ein Weibchen, dann verbeißt er sich in sie. Sie wachsen zusammen und haben irgendwann sogar einen gemeinsamen
Blutkreislauf. Ich fand es immer widerlich, wenn er davon erzählt hat. Vielleicht weil mir bewusst war, dass diese Fische eine Metapher für unsere Beziehung darstellten. Ja, David lebte in der Dunkelheit, aber auch im Licht. Vor allen Dingen sah er mich. Er sah mir ins Gesicht und sah Auge, Auge, Nase, Mund. Gedanken und Grübeleien. Er modellierte meinen Körper und fand ihn einzigartig. Mit ihm war ich … jemand, Anna. Kannst du das verstehen?«
»Ja. Das verstehe ich. Ich glaube auch nicht, dass das so ungewöhnlich ist. Mama hat sich nie die Zeit genommen, herauszufinden, wer ich bin. Es reichte, wenn sie wusste, wer meine Schwester war. Fredrik hat das vermutlich genauso empfunden. Er war nicht nur Luft für seine Eltern, er musste die Luft auch noch spielen. Bei dir führte das dazu, dass du an einen Mann geraten bist, der dich zumindest manchmal sah und dem du dich deswegen total hingeben wolltest. Fredrik scheint die Einsamkeit gewählt zu haben.«
»Ist das so?«
Beide verstummten. Mari fiel auf, dass der Portwein wie roter, fast schon ins Schwarze changierender Samt funkelte.
»Wann sollen wir es ihm erzählen?«, fragte sie schließlich.
Anna schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Ich hätte ihn bitten sollen, herzukommen. Aber plötzlich war er von diesem bizarren Leichenschmaus verschwunden. Ich habe keine Ahnung, wo er hin ist, und er hat sein Handy abgestellt. Um die Wahrheit zu sagen, mache ich mir Sorgen um ihn. Er wirkte gehetzt. Er war bleich und einsilbig. Was er erzählt hat, dass er was mit Musik und Tanz aufziehen will … ich kann mir nicht vorstellen, an was er denkt.«
»Vermutlich an das, woran wir alle denken. An Hans Karlstens Tod.«
Im Café war es jetzt fast ganz dunkel. Nur die Teelichter verbreiteten ein schwaches Licht. Annas Gesicht wirkte mit
den aufgerissenen Augen und dem verzogenen Mund wie eine Maske.
»Was sollen wir tun, Mari? Was sollen wir Martin Danelius, der will, dass wir seiner Frau auf die andere Seite helfen, sagen? Was machen wir mit Fredrik?«
»Wir müssen mit ihm reden. Wir müssen ihm sagen, was passiert ist. Er wird entsetzt und verzweifelt sein, aber das lässt sich nicht ändern. Gemeinsam müssen wir überlegen, wie wir diesem Martin klarmachen, dass wir seinem Begehren nicht entsprechen können. Gegebenenfalls sprechen wir auch noch ein weiteres Mal mit Elsa Karlsten. Sie soll uns versprechen zu schweigen. Schlimmstenfalls müssen wir ihr das Geld zurückgeben.«
Anna schüttelte den Kopf.
»Dazu ist es jedenfalls für mich zu spät«, flüsterte sie. »Ich habe bei diesem Seniorenheim in Dalarna angerufen, von dem ich erzählt hatte, und bereits eine Wohnung reserviert. Eine der letzten. Papas Freude, als ich ihm davon erzählte, lässt sich kaum beschreiben. Er fragt sich natürlich, wie ich das bezahlen kann, aber ich glaube, mir ist eine
Weitere Kostenlose Bücher