Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
einmischen zu dürfen, was Tod und Leben miteinander ausrangen. Sie
hatte versucht, sich einzureden, dass sie nur einen raschen Blick werfen würde. Dass nichts entschieden sei. Alles gelogen, das sah sie nun ein. Sie hatte gewusst, was sie zu sehen bekommen würde und dass es sie entsetzen würde. Dass es sie dort treffen würde, wo sie am verletzlichsten war. Eigentlich war sie mit einer Frage gekommen, stattdessen hatte sie eine Antwort erhalten.
Sie hatte wissen wollen, was es für einen Sinn hatte. Jetzt sah sie die bittere Bestätigung der Sinnlosigkeit vor sich. Nichts konnte den Mangel an Leben, der sich ihr darbot, verteidigen, und niemand würde sie je davon überzeugen können, dass die vollkommene, bewusstlose Abhängigkeit nicht jeglicher Würde entbehrte. Trotzdem war das, was aus dieser Schlussfolgerung resultierte, ebenso schwer wie die in Stein gehauenen Zehn Gebote Gottes. Ihr Körper kämpfte gegen ihren Willen, und sie erinnerte sich an das geflügelte Wort: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Auf dem Nachttisch standen ein paar Fotos, und sie sah Anna in jungen Jahren: Eine schöne Frau mit dunklem Haar, die neben einer anderen Frau stand, vielleicht ihre Schwester. Eine Schwester. Selbst hätte sie gerne eine gehabt und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Die Schwester. Die ersehnte. Sie war fünf Jahre alt und hatte sich bereits daran gewöhnt, die Einzige, aber auch die Unvollkommene zu sein. Sie konnte sich nicht recht einfügen. Es gab Regeln, die befolgt werden mussten, Gefühle, die man zu empfinden hatte, Erwartungen, denen zu entsprechen war, die sie aber nicht recht verstanden hatte, weil sie so sehr damit beschäftigt gewesen war zu leben und gar nicht daran hatte denken können, wie sie dabei zuwege ging. Sie war nicht unglücklich gewesen. Nur manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, etwas zu vermissen, und diese Lücke hatten auch die Zimtschnecken aus der Speisekammer und das Spiel mit den Streichhölzern auf dem Hof nicht ausfüllen können. Vielleicht hatte sie dieses Gefühl von ihren Eltern geerbt, ein Gefühl,
dem sie unbewusst Ausdruck verliehen hatten, wenn sie an einem Kinderwagen vorbeigekommen waren oder wenn von einer »Entbindung« oder »gesegneten Umständen« die Rede gewesen war.
Dann dieser Tag. Sie war nach Hause gekommen, und ihre Eltern hatten freudestrahlend am Küchentisch gesessen. Sie hatten sich angestrahlt und sie. Plötzlich hatte es in Mengen gegeben, womit vorher nur gegeizt worden war. Einige Wochen später hatte sie an dem Wunder teilhaben sollen. »Du wirst ein Geschwisterchen bekommen. Mama erwartet ein Kind.«
Da hatte sie verstanden, was es bedeutete, eine Familie zu sein. Lachen war erlaubt, auch ihr, und es hatte den Anschein, als sei die bedrückende Unzufriedenheit aus den Wänden gewichen. Als sei ein Wasserschaden mit Erfolg behoben. Erst nachdem sich dieses Glück ausgebreitet hatte, verstand sie, was ihr vorher gefehlt hatte. Vielleicht lag das hauptsächlich daran, dass ihre Eltern zueinandergefunden hatten. Papa durfte Mama wieder anfassen und ihr über den Bauch fahren, der immer runder wurde. Mama ließ sie ins Schlafzimmer kommen und Dinge tun, die sie bislang nie gedurft hatte. Es kam sogar vor, dass sie alte Ballkleider leihen durfte, um sich zu verkleiden.
Als die Geburt bevorstand, musste sie zu den Nachbarn umziehen. Aufgeregt lief sie von einem Zimmer ins nächste, bis die Mutter der Nachbarfamilie streng zu ihr sagte, es reiche jetzt. »Mit einem Baby im Haus gelten andere Regeln. Es ist genauso gut, dass du dich gleich daran gewöhnst, dass sich jetzt nicht mehr alles um dich dreht«, sagte sie. Sie konnte sich noch gut an diese Worte erinnern. Auch an den Tonfall.
Sie musste ziemlich lange bei den Nachbarn bleiben. Sie schlief auch dort, in einer übelriechenden Abstellkammer, in der sie Alpträume bekam. Als sie wieder in ihr eigenes Zimmer einziehen durfte, zeigte es sich, dass Mama und Papa bereits
eine geraume Zeit zu Hause gewesen waren. Mit ihr, der Neuen. Iris.
»Iris ist eine schöne Blume«, erklärte ihre Mutter. Sie schaute ins Kinderbett und sah etwas, von dem sie angenommen hatte, dass es rot, verschrumpelt und kräftig sein würde, es war aber bleich wie der Mond. Das kleine, schmale Wesen, das ganz vorsichtig atmete, war so zerbrechlich, dass man glaubte, es könne wegfliegen, wenn man darauf blies. Sie hatte immer gedacht, Babygeschrei sei durchdringend, aber wenn Iris schrie, dann ganz
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