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Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm

Titel: Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Ernestam
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schwach und vorsichtig, etwa wie eine Nachtigall, deren Töne zerbersten. Trotzdem schienen es Mama und Papa überall und immer zu hören.
    Allmählich verstand sie, dass etwas nicht stimmte. Dass die Kleine nicht mehr zu dem Gefühl beitrug, dass sie eine Familie waren, wie damals noch, als sie in Mamas Bauch gelegen hatte. Mamas Leidensmiene kehrte zurück, und Papa durfte seine Frau nicht mehr anfassen, weder am Bauch noch sonstwo. Jedenfalls nicht, soweit sie beobachten konnte. Sie selbst verschwand in einem schwarzen Loch der Gleichgültigkeit, in dem nichts, was sie unternahm, so recht passte. Falls überhaupt jemand von ihr Notiz nahm.
    Iris war von Anfang an zum Tode verurteilt, sagten die Ärzte. Der angeborene Herzfehler war irreparabel, aber ihr Organismus war kräftiger, als alle erwartet hatten. Tag für Tag, Monat für Monat wachten sie über sie und erlebten, wie sie das Gitterbett verließ, sich umdrehte, krabbelte und schließlich ging. Sie rannte jedoch nicht, und sie aß auch nur manchmal. Sie war ein liebes Kind. Friedlich und nett, so wie ein Kind sein sollte. So wie sie nie gewesen war, so wie Mama sie sich aber immer gewünscht hätte.
    Aber so lieb Iris in gesunder Verfassung war, so war es doch kein Vergleich dazu, wie es war, wenn sie krank war. Jedes Mal, wenn sie wieder mit einer Infektion unter ihrer Daunendecke lag, war es, als würde Mama gewissermaßen ihre
Rolle übernehmen, sie wurde eins mit ihr. Sie sprach davon, was Iris in dieser oder jener Situation getan hätte, was sie gesagt und wie sie empfunden hätte, während diese selbst hinter geschlossener Tür im Fieberschlaf lag und überhaupt nichts dachte oder empfand. Iris, die Mitfühlende. Iris, die Umsichtige. Iris, die Reine und Unbefleckte.
    Iris die Unerreichbare und Perfekte. Ein Engel. Wenn sie selbst in den Spiegel schaute, sah sie, wie sie sein konnte, nur besser. Dann sah sie Iris’ Spiegelbild. Aber ihre Anstrengungen waren vergeblich. Wie sehr sie auch versuchte, ruhiger, netter und sauberer zu sein, war Iris, das Spiegelmädchen, doch immer besser. Deswegen war sie geflohen. Und hatte nur so viel Verbindung aufrechterhalten, wie sie gerade verkraften konnte. Sie hatte ihre Nase in ein anderes Leben vergraben und den Geruch von Rot und Farbe, Sünde und Gelächter eingeatmet. Hatte sich nur zur Hälfte verstanden gefühlt. Die Familie war ohnehin zerbrochen, als Iris die Prophezeiung erfüllt hatte und verschwunden war. Jetzt war nur noch sie da. Die Verantwortung lastete schwer auf ihren Schultern.
    Sie beugte sich über Anna Danelius. Sie nahm ihre Hand. Sie betrachtete den eingefallenen, lippenlosen Mund und die pergamentähnliche Haut der Finger und dachte, dass das, was sie gleich tun würde, von bizarrer Logik war. Kleopatras Kamm stand im Begriff, eine Mumie zu liquidieren. Eine Mumie, eine von denen, die sie zum Namen ihrer Firma und ihrer Geschäftsidee inspiriert hatten. Sie meinte auf dem Gang Schritte zu hören. Das Adrenalin pulsierte durch ihre Adern, aber das war vermutlich nur eine Illusion, genau wie ihre Schwesterntracht eine Illusion war. Dann schaute sie auf das Atemgerät. Die vielen Knöpfe verwirrten sie. Dann entdeckte sie einen, mit dem sich die Maschine abstellen ließ. Sie zögerte und drückte dann auf den richtigen Knopf. Das rhythmische Pumpen hörte auf. Bei der Maschine und bald auch beim
Menschen. Ein einfacher Minusposten in der Bilanz. Ein attraktives Zimmer in der Klinik würde frei werden.
    Die Luft war raus. Noch nie hatte ihr dieser Ausdruck so eingeleuchtet wie jetzt. Wie der Vorfall den Organismus innerhalb weniger Sekunden einholte. Wie die malträtierten Lungen noch einmal versuchten, sich zu heben und zu senken, bis der Tod die Hand ausstreckte und über die Stirn strich. Die Atemzüge unregelmäßiger wurden, die Augenlider flatterten. Leben. Ja, so war es. Sie begriff, was sie gerade getan hatte. Oder was sie gerade hatte tun wollen. Panisch drückte sie den Knopf wieder ein. Wollte alles wieder ungeschehen machen. Sie sah, wie der Brustkorb zögerte. Hörte Schritte auf dem Gang und wusste, dass sie verschwinden musste. Sie hatte am Abgrund gestanden und hatte springen wollen und es im letzten Moment unterlassen. Rechtzeitig?
    Ihre Beine zitterten, aber sie richtete sich auf, öffnete die Tür und schlüpfte auf den Gang. Mit panischer Selbstbeherrschung bewegte sie sich auf den Ausgang zu, zwang sich dann nach einer Weile, ganz ruhig zu gehen, um die Illusion einer

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