Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
Bettkante und versuchte von dort aus in den Rollstuhl zu gelangen. Ich musste mich dazu um neunzig Grad drehen. Wochenlang kam mir das unmöglich vor. Sie sagten dort: ›Immer nur ein Stückchen weiter.‹ Immer nur ein
paar Grad mehr. Schließlich hatte ich es geschafft. Meine Welt ist eine kleine Welt geworden, dachte ich. Glück war eine weiche Decke über den Beinen, und dass man Hilfe bekam, wenn man nach einer Nacht, in der man geschwitzt hatte, duschen wollte. Dass es etwas Gutes zu essen gab und man Appetit hatte. Da erkannte ich, dass alles viel einfacher wurde, wenn man die Perspektive veränderte. Wenn ich mich entschied, die kleine Welt als die große Welt zu betrachten und die große als die kleine. Das hat mich so weit gebracht, dass ich jetzt hier leben kann. Und mit Papas Hilfe natürlich. Ohne ihn wäre nichts möglich.«
Fredrik strich sich über die Augen, um die Erinnerung an etwas zu verdrängen, was sein Vater einmal gesagt hatte. Umarmst du deine Kinder, dann musst du ihnen das ganze Leben lang hinterherputzen.
Stella seufzte.
»Es mag seltsam klingen. Aber ich bin glücklich. Ich glaubte, es nicht überleben zu können, als mich mein Mann verließ, aber sah recht bald ein, dass das eine doppelte Niederlage gewesen wäre. Ich hatte bereits einmal überlebt und hielt es für meine Pflicht, mit diesem Geschenk vorsichtig umzugehen. Dann ging alles sehr gut, als wollte mich das Leben doch noch entschädigen. Ich bin Architektin, und in diesem Beruf sind die Arme schließlich wichtiger als die Beine. Mein altes Büro versicherte mir, ich könne jederzeit zurückkommen. Ich hatte also nichts zu verlieren. Heute arbeite ich wieder als Architektin und beschäftige mich hauptsächlich mit der Inneneinrichtung für Menschen mit Handicap. Da gibt es eine Riesennachfrage, und ich bin dankbar, dass es auf diesem Gebiet inzwischen so rigorose Bestimmungen gibt. Ich habe mehr zu tun, als ich eigentlich bewältigen kann. Außerdem halte ich sowohl bei Behindertenverbänden als auch bei Firmen Vorträge darüber, wie man mit Hilfe innerer Motivation über einen Schicksalsschlag hinwegkommt. Meist reicht es, dass ich in
meinem Rollstuhl vor den Zuhörern sitze, um ihnen das Gefühl zu geben, dass sie noch mehr leisten können. Schließlich habe ich es auch geschafft.«
Sie lachte. Fredrik sah ihre kleine rosa Zunge.
»Absurderweise habe ich jetzt auch angefangen, als Model zu arbeiten. Es begann mit Anzeigen für Hilfsmittel für Behinderte. Dann ließ ich mich in einer Frauenzeitschrift abbilden, in der Leute mit einem Handicap neue Frühlingsfrisuren vorführten. Vor dem Unfall wog ich viel mehr, aber in der Klinik habe ich dann radikal abgenommen. Vielleicht hat das auch eine Rolle gespielt. Ist es nicht absurd, dass Übergewicht ein schlimmeres Stigma ist als die Tatsache, dass man nicht mehr gehen kann?«
Fredrik sah, wie sie gestikulierte. Die Entrüstung über den Täter, der sich nie entschuldigt hatte, war verschwunden, und er schämte sich für alles, was er je gehasst hatte, und für jede Rache, die er je geübt hatte. Stella war darüber hinausgewachsen. Er selbst befand sich noch in einem Sumpf aus Schuld, Erniedrigung und Abscheu.
»Ich bin davon überzeugt, dass du, als du noch mehr gewogen hast, genauso schön warst wie jetzt. Ich weiß jedoch nicht … du bist bewundernswert«, meinte er schließlich.
Stella lachte erneut, und zwar auf eine Art, die ihn an eine Perlenkette erinnerte, die einmal entzweigegangen war. Die Perlen waren eine nach der anderen zu Boden gefallen.
»Danke, Fredrik. Du darfst wiederkommen. Dann wirst du merken, dass es auch eine andere Seite gibt. Natürlich bin ich nicht immer glücklich. Nachts träume ich davon, aufstehen zu können. Dann laufe ich herum. Immer schneller, schließlich renne ich. Wenn ich einmal angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Mir bricht der Schweiß aus. Dann erwache ich abrupt und bin vollkommen schweißgebadet. Und meine Beine liegen da, ebenso leblos und tot wie zuvor. Dann denke ich, dass mir nicht nur die Fähigkeit zu gehen fehlt, sondern
auch die … Ungewissheit. Mir fehlt die Zeit, in der ich nicht wusste, dass das Leben so schmerzhaft sein kann. Mir fehlt eine Art mentale Unschluld, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ja, ich weiß, was du meinst.« Fredrik schaute in ein Paar fröhliche Augen, aus denen trotzdem die Trauer hervorschimmerte.
Michael erhob sich. »Es tut mir leid, dass ich dieses nette
Weitere Kostenlose Bücher