Mord Wirft Lange Schatten: Mitchell& Markbys Dreizehnter Fall
schlechtestenfalls ungehobelt. Sie hatte außerdem Grund zu der Annahme, dass er durch den Inhalt ihrer Aktenein- und -ausgänge schnüffelte, wenn sie nicht im Büro war. Geralds Neugier war unersättlich gewesen, doch von der harmlosen, gutmütigen Art. Adrians Neugier war zielgerichtet. Er wollte etwas über sie in die Hand bekommen, etwas, das er benutzen konnte, falls es nötig wurde. Es lag in seiner Natur. Er hatte die Instinkte eines Erpressers, und er war der Typ Mensch, der sich am Unbehagen anderer weidete. Meredith musste auf der Hut sein. Die übliche Pendlerschar lief im Bahnhof umher. Menschen standen einzeln oder in Gruppen, Styroporbecher mit heißen Getränken in den Händen, die Augen unverwandt auf die automatische Tafel mit den Abfahrtszeiten gerichtet. Um diese Zeit am Abend füllten sich die Züge rasch, und wenn man nicht die Hälfte der Zeit im Zug stehen wollte, musste man in dem Augenblick, in dem die Bahnsteignummer auf dem Schirm aufleuchtete, lossprinten wie ein Windhund, sobald die Klappe zurücksprang. Was brachte sie dazu, sich unter diesen Umständen einen einzelnen Mann in der Menge herauszusuchen? Meredith hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet ihn. Er stand ganz in der Nähe, nur ein paar Meter entfernt, und obwohl er ihr den Rücken zugewandt hielt, schätzte sie, dass er jung war. Seine Statur war kompakt und muskulös. Er trug Jeans und ein graues T-Shirt mit dunklen Schweißflecken unter den Achseln. Zu seinen Füßen lag ein großer Rucksack, an dem noch der Aufkleber einer Fluggesellschaft befestigt war. Meredith fiel auf, dass er unverwandt auf die Anzeigetafel schräg über ihm starrte, als wäre er nicht nur unsicher, welchen Bahnsteig er letztendlich nehmen müsste, sondern auch, ob der Zug überhaupt existierte. Von wo mag er wohl herkommen?, sinnierte sie. Ist er auf dem Hin- oder auf dem Rückweg? Als hätte er bemerkt, dass er beobachtet wurde – wie wir alle manchmal bemerken, wenn wir beobachtet werden –, wandte er nun den Kopf, und sie spürte, wie seine Blicke sie abschätzten, bevor sie hastig die Augen abwenden und so tun konnte, als konzentrierte sie sich auf etwas anderes. Sie hatte einen flüchtigen Eindruck von ungewöhnlichen, doch attraktiven Gesichtszügen, außergewöhnlich großen dunklen Augen und einem kleinen Mund mit geschwungenen Lippen. Ein Gefühl von Unruhe breitete sich in ihr aus, doch sie führte es darauf zurück, dass er sie beim Spionieren überrascht hatte. Dann leuchtete die Bahnsteignummer auf der Tafel auf, und die Menge setzte sich wie eine Herde aufgeschreckter Rinder in Bewegung. Alles strömte auf die Tore zu. Meredith rannte mit den anderen, bahnte sich mit wohlgezielt eingesetztem Aktenkoffer ihren Weg und ließ sich schließlich atemlos und triumphierend auf einen freien Sitzplatz am Fenster sinken. Die übrigen Passagiere drängten und drückten in den Waggon, bis auch der letzte Sitzplatz eingenommen war und die Verlierer missmutig herumstanden, während sie darauf warteten, dass die ersten Pendler wieder ausstiegen und ihren Platz freimachten. Erst dann wurde ihr bewusst, dass der junge Mann ihr direkt gegenübersaß. Er hatte seinen Rucksack zwischen den Sitzen verstaut, und als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, blickte er gespannt aus dem Fenster. Es war offenkundig, dass er alles zum ersten Mal sah. Meredith, die genauso neugierig auf seine Person war wie er auf die Welt draußen vor den Fenstern, durch die der Zug langsam schaukelte, nutzte ihre Gelegenheit, um ihn weiter in Augenschein zu nehmen, statt sich wie üblich auf das Kreuzworträtsel in ihrem Evening Standard zu konzentrieren. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig; es war schwer genau zu sagen. Seine Haut war sonnengebräunt, als würde er viel Zeit draußen verbringen. Seine Haare waren dunkel und lockig und wiesen an den Schläfen bereits ein frühes Grau auf. Auf den nackten Unterarmen wuchsen feine schwarze Härchen, genau wie auf den Rücken seiner verschränkten Hände. Sein Gesicht war oval. Er besaß eine lange, gerade, breite Nase und die großen dunklen Augen, die Meredith bereits vorhin aufgefallen waren. Ein klassisch mittelalterliches Gesicht, dachte Meredith, das aussah, als sei es auf direktem Weg einem Kirchenfresko entsprungen – doch ob es nun einem Sünder oder einem Heiligen gehörte, vermochte sie nicht zu sagen. Dann, ohne Vorwarnung, wandte er den Kopf und blickte Meredith direkt in die Augen. Er lächelte.
»Dieser Zug
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