Mord Wirft Lange Schatten: Mitchell& Markbys Dreizehnter Fall
weiß nicht, wie sie damit zurechtkommen. Sie mögen vielleicht keine Einsiedlerinnen sein, aber sie leben zumindest äußerst zurückgezogen.« Sein Tonfall wurde entschiedener.
»Wir müssen die Herkunft des Arsens feststellen. Wenn uns das gelingt, haben wir mit hoher Wahrscheinlichkeit auch den Mörder. Es ist nichts, das man dieser Tage in einem x-beliebigen Laden kaufen oder in irgendeiner chemischen Anlage stehlen kann, ohne dass es bemerkt würde. Ein moderner Mörder kann es unmöglich so einfach beschaffen wie damals William Oakley.« Er erhielt keine Antwort und blickte neugierig auf. Meredith war blass geworden.
»Déjà vu«, sagte sie leise.
»Es ist unheimlich, wirklich. Zwei Morde auf Fourways House, beide mit Arsen, hundert Jahre auseinander. Beim ersten Mal wurde William Oakley des Mordes angeklagt, doch er konnte der Gerechtigkeit entkommen. Jetzt, beim zweiten Mal, ist sein Enkel das Opfer. Es ist fast so, als hätte jemand geduldig all die Jahre gewartet, um sich endlich doch noch zu rächen.«
KAPITEL 16
AM MONTAGMORGEN machte sich Stanley Huxtable in der Erwartung auf den Weg zum Gericht, dass es diesmal viel zu sehen gab, denn jetzt war Mr. Green an der Reihe, der Verteidiger Oakleys. Er rieb sich munter die Hände, während er auf dem Bahnsteig der Bamford Station auf seinen Zug nach Oxford wartete und sich suchend nach dem Mann von Reuters umblickte. Er war, wie Stanley misstrauisch und erleichtert zugleich feststellte, nirgendwo zu sehen. Der Mann von der internationalen Presse hatte sich beharrlich an Stanley geheftet, und Stanley wusste genau, dass es nicht aus Sympathie für einen Kollegen von der Presse war. Doch nun, da Stanley ihn nirgendwo sah, begann er sich zu fragen, wo er denn steckte. Hatte er vielleicht verschlafen? Oder war er über irgendeine Story gestolpert und hatte Stanley nichts davon verraten? In diesem Augenblick betraten zwei Frauen den Bahnsteig, und jeder Gedanke an den abwesenden Mann von Reuters verschwand aus Stanleys Kopf. Eine der Frauen war im mittleren Alter und von respektablem Erscheinungsbild. Die andere, so schätzte Stanley anhand ihrer Figur und der Art und Weise, wie sie sich bewegte, war jung. Er konnte nicht sicher sein, weil ihr Gesicht von einem dichten Schleier verdeckt wurde, als wäre sie in tiefster Trauer. Die ältere Frau machte viel Aufhebens um die jüngere, die äußerst nervös wirkte. Was hat das nun wieder zu bedeuten?, sinnierte Stanley. Ist die jüngere der beiden eine Witwe? Ist die ältere vielleicht ihre Mutter? In diesem Augenblick erfasste ein Windstoß den Schleier und wehte ihn für einen Sekundenbruchteil zur Seite. Stanley erhaschte einen flüchtigen Eindruck ihrer linken Gesichtshälfte, und es war ein sehr schönes Profil. Was ihn jedoch viel stärker faszinierte, war ihre Reaktion auf die Bewegung des Schleiers. Ihre Hand schoss blitzschnell nach oben, um ihn wieder an seinen Platz zu zerren, und dann blickte sie sich verstohlen um, als wollte sie prüfen, ob es jemand bemerkt hatte. Hätte sie Stanley in diesem Augenblick bewusst wahrgenommen, würde sie einen jungen Mann gesehen haben, der angelegentlich die Gleise vor dem Bahnsteig musterte. Der Zug näherte sich dem Bahnhof. Die mächtigen Räder quietschten laut, als er vor dem Bahnsteig zum Stehen kam, und dichter, stinkender weißer Dampf aus der Lokomotive hüllte die wartenden Passagiere ein. Als der Dampf sich wieder verzogen hatte, waren die beiden Frauen nirgendwo mehr zu sehen. Stanley zuckte die Schultern und stieg in den Zug.
Der Mann von Reuters hatte einen früheren Zug genommen und saß bereits im Pressekasten, als Stanley im Gerichtssaal eintraf. Er hatte sich Stanleys Platz einverleibt, der am dichtesten beim Zeugenstand war. Mehr noch, er hatte bereits Informationen aufgetrieben, an denen er Stanley nun teilhaben ließ.
»Er will das Kindermädchen in den Zeugenstand rufen«, sagte der Mann von Reuters.
»Was denn – Green?«, fragte Stanley ungläubig.
»Nie im
Leben!«
»Das habe ich jedenfalls in Erfahrung gebracht. Mögli cherweise ist es ein geschickter Schachzug. Wenn sie als ehrbares, anständiges Mädchen erscheint und einen guten Eindruck macht, dann könnte es die Aussage der Haushälterin gründlich erschüttern.«
»Er geht ein ziemlich großes Risiko ein«, sagte Stanley.
»Ich will verdammt sein!« Der Mann von Reuters nickte zustimmend, doch er hatte den Grund für Stanleys letzte Worte völlig falsch verstanden. So
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