Mord
dass es nicht anders ging, man musste schließlich über die Runden kommen. Besonders schlimm war es unter Alkohol, aber getrunken hatte er oft, und furchtbar wurde es ja nur manchmal. Da war er eh schon schlecht drauf, hatte vorher schon so einen Hals.
Aber jetzt wandelte Siegfried auf neuen Pfaden. Er wollte raus aus der Sicherungsverwahrung, in die Freiheit, er war geläutert. Er wollte mal was Neues ausprobieren, einmal leben wie die anderen, die nie in den Knast kommen. Die zehn Jahre Sicherungsverwahrung, die er zusätzlich zur Strafe erhalten hatte, waren noch nicht ganz verbüßt, aber inzwischen hatte man die 10 -Jahres-Frist aufgehoben. Also saß er hier nun open end; Entlassung nur, wenn gesichert war, dass er keine Straftat mehr begeht. Welcher Gutachter würde ihm das bescheinigen? Er war 45 Jahre alt, 20 Jahre am Stück hinter Gittern und vorher auch schon reichlich.
Wenn ich ins Langstraferhaus kam, stand er da, die Pranken um den Besenstil gelegt, leicht aufgestützt, und dachte nach. Sein Blick schweifte über den Garten des Hauses, mit einem kleinen Feuchtbiotop, den die Gefangenen vor einigen Jahren anlegen durften, mit Vogeltränke, kleiner Holzbrücke und Wasserrad; meist war das Wasser abgestellt. Es musste einfach weiter so friedlich bleiben, dann würden die Teilanstaltsleitung und der Gutachter vielleicht mithelfen, dass man es noch mal mit ihm versucht, dass das Gericht ihn rauslässt. Spes contra spem, hätte er gesagt, wenn ihm die klassische Bildung vergönnt gewesen wäre. War sie aber bei weitem nicht.
Jung Siegfried
Er war nichtehelich, das ist Standard in Tegel. Als er zwei war und der Vater gestorben, gab ihn die Mutter zu den Großeltern nach Berlin. Doch die konnten ihn nicht behalten, sie waren schon dreimal geschieden und zweimal wieder zusammen, da gab es ständig Zoff. Nach sechs Monaten wurde er weitergereicht in ein Kinderheim, wo er bis zur Strafmündigkeit blieb und die Heimschule besuchte. Im Heim war Siegfried groß und stark und aggressiv, früh war er gewiss: Die anderen lachen, aber er muss sich durchschlagen. In den Ferien und am Wochenende durfte er zu den Großeltern.
Mit denen kam Siegfried gut klar, obwohl es zwischen den beiden zur Sache ging, da flog auch mal ein Aschenbecher; der Großvater war ziemlich jähzornig. Er hatte früher im Teerbau, also im Straßenbau, gearbeitet und erzählte, dass das heiß war, aber gut für die Haut. Die Oma war Hauswartsfrau gewesen. Sie wohnten direkt am Kanal, im Norden Berlins in der französischen Besatzungszone, und wenn Siegfried sich bei Oma sattgegessen hatte, lief er mit anderen Kindern der Straße runter zu den Bahngleisen. Am Kanal fingen sie Frösche für die Franzosen, 50 Pfennig pro Stück.
Sonntags brachte ihn der Großvater abends zurück ins Heim, vier Abteilungen mit jeweils 15 Kindern. Jede hatte einen Schlafsaal und einen Tagesraum, das war’s schon. Es gab auch schöne Zeiten im Heim, genauso wie später im Knast, wenn man ehrlich war, gab es auch dort positive Erlebnisse. Aber negative auch. Er durfte im Heim nie mit auf Sommerreisen, nach Sylt und so, weil er als schlimmer Finger galt. Die Kinder, die in Berlin blieben, fuhren auf den Campingplatz Heiligenseer Sandberge. Da durfte auch er mal mit.
Oft ist er abgehauen aus dem Heim, rumgedüst in der Stadt, allein. Am Ende ging er zu den Großeltern, dort gab es als Erstes was zu essen. Dann riefen die Großeltern im Heim an, Siegfried solle doch noch ein paar Tage bei ihnen bleiben, bis er sich beruhigt habe. Nach diesen drei Tagen musste er wieder ins Heim zurück. Über seine Mutter oder seinen Vater hat er mit den Großeltern nie gesprochen – wieso auch über Geister reden, die er nie gesehen hatte. Im Heim besuchte er die Hilfsschule, nur wenige Kinder gingen raus auf die normale. Schulisch war er okay, Durchschnitt, kein Wunderknabe, aber auch nicht der Schlechteste.
Im Heim war es wie im Knast, wie überall, wenn Menschen zusammengepfercht sind, die nicht freiwillig da sind – es gibt Reibereien. So kam er zu seinem Ruf. Entweder man fügt sich ein, oder man behauptet seinen Platz in der Rangordnung. Wenn er nicht nach unten gedrückt werden wollte, musste er sich nach oben boxen. Zu den Strafen in der Schule gehörte, dass man mit dem Rohrstock auf die Hände bekam oder eine Stunde in der Ecke stehen musste. Im Heim gab es Arrest, mit Essensentzug. Einmal sollte sich Siegfried in die Ecke stellen und weigerte sich. Der Lehrer
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