Mordlast
herrschte für einen Augenblick absolute Ruhe.
»Ich werde mir seine Wohnung noch einmal vornehmen.«
»Jedenfalls passt alles zu dieser skurrilen Tussi. Inklusive der Ceciliengärten.«
»Wegen der Wohnungseinrichtung?«
»Auch, aber hast du dir mal angesehen, was diese Ceciliengärten für eine Vergangenheit haben?« Engbers sah ihn kurz an und dabei wurde ihm offensichtlich bewusst, dass er Davídsson gerade geduzt hatte.
»Ólafur.« Er reichte Engbers die Hand, der sie jetzt etwas widerwillig schüttelte.
»Siegbert. Siegbert Engbers, Kriminalhauptkommissar.« Er grinste breit.
»Das hat mir schon mein Chef verraten«, Ólafur Davídsson grinste jetzt ebenfalls.
»Dann ist das ja nun auch geklärt.« Engbers stand auf und öffnete wieder das Fenster.
»Was ist mit den Ceciliengärten?«
»Ein bisschen Arbeit muss auch fürs BKA bleiben. Vielleicht erfährst du ja mehr als ich. Viel ist bei mir jedenfalls nicht herausgekommen, aber es passt eben ins Opferbild und zu der durchgeknallten Tussi.«
Davídsson lächelte immer noch, als er über einen dünnen Metallsteg einen frisch ausgehobenen Graben überquerte. Die Bauarbeiter standen jetzt vor dem LKA und tranken ihr Bier.
Was so ein paar Zigaretten alles ausmachen, dachte Ólafur Davídsson. Bald würde es wieder eine ganze Packung werden, und dann noch eine halbe und Engbers war wieder da, wo er vor ein paar Tagen schon einmal war und mit dieser Sucht brechen wollte. Er hatte ein paar Sätze darüber verloren, aber im Grunde wusste Davídsson jetzt nur, dass es nicht das erste Mal war, dass er aufhören wollte.
Er hatte die Fenster geöffnet, aber der sanfte Duft von Vanille war geblieben. Davídsson hatte sich auf einen der beiden Sessel gesetzt, um die Wohnung in sich aufzunehmen.
Jetzt war es für ihn nicht mehr ganz so seltsam, in diese Wohnung zu kommen, wie beim ersten Mal.
Er war schon einmal hier gewesen.
Er hatte alles gesehen, er hatte den Geruch der Wohnung geatmet und ihre Geräusche gehört.
Davídsson versuchte sich Bernd Propstmeyer und Evelyn Schrauder in dieser Wohnung vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Es war eine andere Welt, in die er sich nicht hineinversetzen konnte. Es war schon schwierig, sich an seine eigene Vergangenheit zu erinnern. Manchmal gelang es, aber häufig ging es nicht, jedenfalls nicht so, wie man wollte.
Er ging zu der Fernsehtruhe und versuchte den Plattenspieler einzuschalten. Davídsson hatte noch nie so ein Gerät besessen, auch keine moderne Variante dieses Modells. Er brauchte einen Moment, bis er herausgefunden hatte, wie es funktionierte, und der Tonarm über die Platte glitt, die auf dem Plattenteller lag.
Jetzt hörte er ein leises Knistern und eine verzerrte Stimme, die sang: »Auf Wiederseh‘n, auf Wiederseh‘n,
auf Wiederseh‘n irgendwo in der Welt …«
Das halbe Wohnzimmer war jetzt vom Licht durchflutet. Davídsson sah Staub auf allem, was von der Sonne angeleuchtet wurde.
Er ging vom hellen in den dunklen Teil der Wohnung und sah aus dem Fenster. In den Fenstern der umliegenden Häuser sah er die dunklen Gewitterwolken vorbeiziehen. Gleich würde auch die Sonnenseite der Wohnung finster werden. Vielleicht würde aber auch die Sonne die ganze Wohnung durchfluten.
Das Naturschauspiel wirkte geradezu symbolisch. Wie eine Antwort auf die Frage, wer gewinnen würde – das Böse oder das Gute.
Der Plattenspieler spielte ein neues Lied von Rudi Schuricke. Er hatte den Namen auf der Schallplatte gelesen, auch sie musste ein Original sein. Das Papier war vergilbt und abgegriffen, aber die Platte war nicht verkratzt.
Vielleicht ist es eine Rarität, die viel Geld bringt, wenn man sie einem Sammler anbietet, dachte Ólafur Davídsson. Er blieb vor einer Wanduhr stehen, die er bei seinem ersten Besuch nicht gesehen hatte. Sie passte zum Interieur. Der lange, goldene, pfeilförmige Zeiger arbeitete sich zu einem kleineren mit einer runden Spitze vor, die auf ein kleines Rechteck zeigte. Es war kurz vor vier.
Davídsson schaltete die Musik ab und nahm den Wohnungsschlüssel vom schwarzen Resopaltisch. Als er an der Garderobe im Flur vorbeilief, klimperten die Metallbügel in der Luft. Es klang fast wie eines der Windspiele, die sich manche Leute auf den Balkon hängten.
Er hörte das Geräusch zum ersten Mal.
Er lief noch einmal zurück und wieder an der Garderobe vorbei und das Geräusch kam noch einmal. Da fiel ihm etwas auf, das er die ganze Zeit über nicht wahrgenommen hatte.
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