Mordlast
er Davídssons Gedanken gelesen.
»Ach, hallo Herr Davídsson. Gibt’s was Neues?«
»Wir machen langsam Fortschritte.« Davídsson gab das Passwort ein und der Hintergrund auf seinem Bildschirm veränderte sein Aussehen.
»Und dieser Kriminalhauptkommissar? Haben Sie mit ihm sprechen können?«
»Er ist ruhiger geworden.«
»Gut. Manchmal hilft nur das klärende Gespräch.« Wittkampf lehnte sich gegen den Türrahmen. Er wollte reden.
Davídsson nickte. Er wollte es dabei belassen. Es war nicht so, dass er seinem Vorgesetzten nicht erzählen wollte, dass er mit Engbers nicht gesprochen hatte, oder nicht mit ihm sprechen musste, aber er hielt es für den falschen Zeitpunkt, ihm das jetzt zu sagen.
»Und der Fall?«
Bevor Ólafur Davídsson antworten konnte, klingelte sein Telefon und ein paar Sekunden später auch der Apparat von Wittkampf am Ende des Flurs.
»Hoffentlich nichts Ernstes.« Wittkampf löste sich vom Türrahmen und rannte zu seinem Büro.
Davídsson sah die isländische Vorwahl im Display. Es war seine Schwester Lovísa.
»Heute ist es dreizehn Jahre her«, sagte sie, ohne sich zu melden.
»Ich weiß.« Er hatte mit ihrem Anruf gerechnet. Sie rief immer an diesem Tag an. Es war der Todestag ihrer Mutter.
»Ich wäre jetzt gerne bei dir.«
»Ist dein Freund nicht da?«
»Doch schon …« Am anderen Ende der Leitung raschelte etwas, aber die Verbindung war gut. »Du bist mein Bruder, das ist etwas anderes.«
»Hast du mit Óðinn gesprochen?« Sein Bruder rief selten an. Soweit Davídsson sich erinnerte, hatte er noch nie an diesem Tag angerufen. Vielleicht hatte er mehr an ihrem Vater gehangen. Er war noch jung gewesen, als dieser gestorben war.
»Ich konnte ihn nicht erreichen.«
»Wann hast du mit ihm das letzte Mal gesprochen?«
Sie schien zu überlegen. Das Rascheln hatte aufgehört.
»Vor zwei Wochen ungefähr. Er war kurz hier.«
Er sah das hässliche Mehrfamilienhaus am Eiðsgrandi vor sich, in dem sie mit ihrem Freund wohnte.
Wenigstens hatte sie eine Wohnung mit Meeresblick.
Das konnte beruhigen.
Auf den Horizont zu sehen und dabei das Gefühl zu haben, frei zu sein. Frei von einengenden Gedanken. Einfach über das Wasser fliegen, der unendlichen Weite entgegen, wenigstens in der Vorstellung.
»Er sagt, er möchte nach Amerika. Wie du. Er sagt, er kann hier nicht mehr leben.«
»Mhm.«
»Ich mache mir Sorgen um ihn. Er war noch zu klein, als Mama …«
»Ich weiß …« Davídsson stand auf und schloss seine Bürotür. Er sprach mit seiner Schwester Isländisch, aber er wollte vermeiden, dass ihn jemand dabei störte. Tür zu hieß bei ihm immer, dass er nicht gestört werden wollte.
»Er hat sich von seiner Freundin getrennt. Wieder einmal. Sie war ganz nett. Ich habe sie ein paarmal zusammen in der Altstadt gesehen. Einmal waren wir auch zusammen weg.«
»Was will er in Amerika machen?«
»Das weiß er noch nicht. Vom Tellerwäscher zum Millionär ist wohl sein Traum.«
»Warst du heute bei ihr?«
»Ja. Wir haben schönes Wetter hier. Es war mir irgendwie … fremd.«
»Ich verstehe.«
»Wann bist du wieder hier?«
Es war die immer gleiche Frage. Sie kam bei jedem Anruf, völlig egal, ob er sie anrief oder sie ihn.
»Ich arbeite an einen Fall.« Er wollte schon ›an einem wichtigen Fall‹ sagen, aber das hatte er schon zu oft gesagt.
»Das tust du doch immer. Um was geht es dieses Mal?«
»Wie läuft es mit dir und deinem Freund?« Er wollte jetzt nicht über die Arbeit sprechen, aber ihm war auch nicht der Name ihres Freundes eingefallen.
Sie waren erst vor Kurzem zusammengezogen und hatten sich nur wenige Tage davor kennengelernt.
Lovísa hatte ihm nicht erzählt, wie.
»Árni war mit auf dem Fossvogskirkjugarður und jetzt sitzt er in der Küche und macht Flatbrauð. Wir haben nach dem Friedhof Hangikjöt gekauft und er möchte es auf die traditionelle Weise essen. Es riecht schon ganz lecker, aber die ganze Wohnung ist voller Rauch.« Sie lachte herzhaft.
»Ich kann’s mir vorstellen.«
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wann du mal wieder hierherkommst.«
»Ich hatte gehofft, dass du die Frage dieses Mal nicht stellen würdest.«
»Wieso? Möchtest du nicht kommen?«
»Doch, aber ich kann es nicht und es ist immer so schwer, deine Enttäuschung in der Stimme zu hören, aber nichts dagegen machen zu können.«
»Ist es nicht verständlich, dass ich traurig bin, wenn du nicht da bist?«
Er sagte nichts. Er wollte nicht mit ihr
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