Mordlast
Streifenwagen.
Die Station wirkte wie ausgestorben. Was für ein doppeldeutiger Begriff in diesem Zusammenhang, dachte er, als er über den leeren Korridor lief, beinahe schon rannte.
In dem Zimmer wartete niemand. Die Eltern von Fabian Schubert waren nicht gekommen. Es konnte eine Erklärung dafür geben, aber Davídsson glaubte nicht daran. Er setzte sich auf den einzigen Stuhl in dem Raum, einen weißen Metallstuhl, kalt und abweisend wie der Raum selbst.
Für ihn gab es keinen erkennbaren Unterschied zum letzten Besuch. Der Junge schien friedlich zu schlafen. Die Augen waren geschlossen und wirkten nicht angespannt oder schmerzverzerrt. Vielleicht lag es ja an den Schmerzmitteln oder einem Chemiecocktail, den der Junge sicher bekam.
Er nahm die Maschinen kaum noch wahr, die ihn am Leben erhielten, und er wusste noch immer nicht, was mit dem Jungen während des Unfalls passiert war. Sein Oberkörper schmerzte noch immer bei jeder Bewegung und an Anschnallen beim Autofahren war noch längst nicht zu denken, aber er lag wenigstens nicht hier, in diesem trostlosen Raum mit den weißen Wänden und dem kalten Neonlicht, das er ausgeschaltet hatte, als er den Raum betreten hatte. Er war sich sicher, dass die kleinen grünen, gelben und roten Leuchtdioden der Maschinen ein wärmeres Licht abgeben würden. Alleine das Licht vom Korridor fiel jetzt noch durch die Scheiben. Draußen war niemand zu sehen. Niemand rannte hektisch über den Flur, überall nur Ruhe und die gleichmäßigen Töne, die einschläfern konnten. Die ihn selbst zur Ruhe kommen ließen.
Die Journalisten standen draußen. Er war in Sicherheit hinter den hohen Stahlzäunen, die mit Kameras rund um die Uhr überwacht wurden. Aber irgendwann würde er das sichere Gebäude verlassen müssen.
Irgendwann musste er vor die Presse treten und Erklärungen abgeben.
Sie lauern da wie ein Löwe auf seine Beute, dachte er.
Engbers stand unter dem gleichen Druck, und er konnte sich nicht einmal hinter hohen Mauern verstecken. In der Bundespressekonferenz waren die Vorwürfe gegen sie schon zur Sprache gebracht worden und die Sprecherin des Bundesinnenministeriums war in Erklärungsnot gekommen.
Ein paar Minuten nach der Pressekonferenz hatte sie bei Wittkampf angerufen, der ihr ein paar Informationen an die Hand gegeben hatte. Die gleichen, die er schon an die eigene Pressestelle weitergegeben hatte. Worthülsen, mit denen sich die meisten Journalisten zufriedengeben würden. Für die nächsten Stunden oder, wenn sie Glück hatten, auch den nächsten Tag.
Die Nummer wurde nicht übermittelt, als das Handy in der Sakkotasche klingelte. Er spürte das Vibrieren. Das konnte entweder bedeuten, dass jemand von der Presse herausgefunden hatte, wie er zu erreichen war, oder dass jemand anrief, den er kannte und dem er diese Nummer gegeben hatte.
Davídsson zögerte einen Augenblick. Im Moment wollte er niemanden sprechen. Er hatte vor ein paar Minuten den Telefonhörer auf den Schreibtisch gelegt, aber als ihn das ständige monotone Tuten zu nerven begonnen hatte, hatte er das Kabel gezogen und den Hörer wieder auf die Schale gelegt.
»Ja …« Eine kurze Meldung, ein noch kürzeres Telefonat, dachte er.
»Hallo Brüderle.« Es war Lovísa. Zum Glück. »Ich bin in drei Stunden bei dir. Naja, sagen wir mal vier, bis ich die Koffer habe und mit dem Taxi zu dir gefahren bin.«
»Oh«, war das Einzige, was er herausbrachte. Es gab keinen schlechteren Zeitpunkt für einen Besuch seiner Schwester.
»Freust du dich denn nicht?« Er meinte, eine Spur von Beleidigung in ihrer Stimme gehört zu haben.
»Doch schon …«
»Es ist also mal wieder unpassend … Ich aber bin schon in Keflavík. Zugegeben, es ist etwas spontan und ich weiß, dass du das nicht so magst, aber …«
Er hörte ihr an, dass sie ihn brauchte, auch ohne dass sie weiterredete.
»Ich hole dich am Flughafen ab.«
»Nein, lass mal. Ich fahre lieber mit dem Zug. Du weißt doch … in Island gibt es keine Schienen und ich fahre gerne Bahn.«
Davídsson hatte es geschafft, unbemerkt an der Pressemeute vorbeizukommen. Wer achtet auch schon auf ein schrottreifes Polizeiauto, wenn man nicht weiß, dass das BKA solche Fahrzeuge überhaupt in seinem Fuhrpark hat.
Er fuhr nach Hause.
Seit dem Unfall hatte er immer einen anderen Weg genommen, doch jetzt war er völlig automatisch am Ostbahnhof vorbeigefahren. Erst, als er auf die Alexanderstraße einbog, wurde ihm bewusst, wo er
Weitere Kostenlose Bücher