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Mordlast

Mordlast

Titel: Mordlast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Guzewicz
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zurückdrehen.« Sie sah ihn immer noch mit dem gleichen Ausdruck an.
    »Ja.« Er war unsicher. Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte.
    »Wir sind nur einmal dahin zurückgekehrt. Wir drei, du, Óðinn und ich.« Sie lächelte. »Wir sind davor zum Kunz gegangen und haben uns für die lange Fahrt mit Schokolade eingedeckt.«
    Ihre Augen wirkten jetzt abwesend. Sie schien die Bilder vergangener Tage vor sich zu sehen.
    »Kannst du dich noch daran erinnern?«, fragte sie schließlich. »Der Laden war furchtbar. Alles war zugestellt mit Sachen. Die Lebensmittel neben den Waschmittelflaschen und nur altes Obst und schimmliges Gemüse. Alles stand auf dem Boden herum und die meisten Sachen in der kleinen Kühltruhe waren schon abgelaufen. Auf der Wurst hatte sich eine zentimeterdicke Kruste gebildet, die er einem mitverkauft hat, wenn man dort ausnahmsweise einkaufen musste.«
    Davídsson konnte sich an den Laden in der Stigahlið erinnern, aber er hatte schon lange nicht mehr an diese Zeit gedacht.
    Das gegenüberliegende Kringlan Einkaufszentrum war gerade im Bau. Der Laden war tatsächlich eng und dunkel in einem einfachen Plattenbau gelegen. Einer der wenigen Deutschen in Island zur damaligen Zeit hatte den Laden damals betrieben. Keiner wusste, wie er mit Vornamen hieß, alle nannten ihn nur bei seinem Nachnamen: Kunz. Er war so etwas wie ein Exot für die meisten Bewohner des Hlíðar Suður Viertels. Die Perücke, die er immer trug, war genauso schlecht gepflegt wie sein Laden.
    Davídsson dachte an die künstliche Kopfbedeckung, die sich in seine Gedächtnis gebrannt hatte. Er erinnerte sich an die dünnen Kunststoffhaare in dieser seltsamen Farbe. War es braun oder dunkelrot oder irgendwo dazwischen? Er wusste noch, dass sie im Laufe der Jahre immer mehr miteinander verschmolzen waren und schließlich in breiten Büscheln von der Mitte des Kopfes hingen.
    Es roch immer muffig und nach altem Fleisch und Fisch. Keiner schien dort einzukaufen, und doch überlebte der Mann irgendwie. Vielleicht ja wegen der Kinder, die auf ihrem Schulweg bei ihm vorbeikamen, um dort Süßigkeiten zu kaufen. Aber zu den Kindern war er immer besonders mürrisch gewesen, als wollte er nicht, dass sie bei ihm kauften.
    »Wir haben einen ganzen Karton Schokolade für uns drei gekauft«, sagte Davídsson schließlich.
    »Ja.« Sie lächelte wieder.
    Sie saßen schweigend nebeneinander und Phil Collins sang noch immer leise im Hintergrund.
    »Was ist aus Kunz geworden?«
    »Er ist ein paar Jahre später gestorben. Er liegt irgendwo auf dem Fossvogskirkjugarður, soweit ich weiß.«
    »Wie Mutter.« Davídssons Vater lag auch auf dem Friedhof an der Bucht, aber über ihn redeten sie nie.
    »Ich würde das gerne mit jemandem teilen. Diese Erinnerungen, sie weitergeben.« Sie sah ihm jetzt direkt in die Augen.
    »Du kannst doch mit mir darüber sprechen.«
    »Ja.« Sie stand auf und stellte sich an das Fenster, das jetzt ein großes dunkles Loch war. »Ich möchte meine Erinnerungen aber auch an ein Kind weitergeben. Ich möchte einem Baby ein besseres Zuhause geben, als wir es hatten.«
    »Ich verstehe.«
    »Ich glaube, ich schaffe das. Ich meine, ich glaube, ich kann für eine Familie sorgen und ich kann einem Baby die Geborgenheit schenken, die es braucht, um es besser zu haben als wir.«
    »Ja.«
    »Ja? Glaubst du das wirklich?« Sie drehte sich zu ihrem Bruder um.
    »Ja. Du bist bestimmt eine gute Mutter.«
    Sie setzte sich wieder auf die Couch zu ihm und zog die Beine an ihren Körper.
    »Er will es nicht. Noch nicht, sagt er, aber ich glaube, er will überhaupt keine Kinder.«
    »Árni …«
    »Ja. Er sagt, dass die wirtschaftliche Lage zu schlecht ist, um ein Kind in diese unsichere Welt zu setzen. Ich hätte nie gedacht, dass er so ein Verantwortungsbewusstsein hat und ich glaube es auch heute nicht. Er sucht nur nach Ausreden, um keine Kinder aufziehen zu müssen.«

9
     
    D er Weg führte ihn wieder nach Schöneberg. Die Berliner Verkehrsbetriebe hatten ihren Sitz nicht weit entfernt vom Schwerbelastungskörper.
    Was für ein Zufall, dachte Davídsson, als er über die Kolonnenbrücke fuhr, von der man den Pilz jedoch nur dann erkennen konnte, wenn man genau wusste, wonach man Ausschau halten musste.
    Er versuchte aus dem alten Radio einen vernünftigen Ton herauszubekommen, aber es war schwer, überhaupt einen Sender zu finden. Die Antenne war bis auf einen Stummel abgeknickt worden, aber es konnte auch an dem Radio liegen, das

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