Mordlast
so alt sein musste wie das Fahrzeug selbst.
Ólafur Davídsson dachte an seine Schwester. Sie wollte tatsächlich ein Kind in diese Welt setzen. Er wusste, dass dieser Wunsch bei den meisten Isländerinnen früher kam als bei den anderen Europäerinnen. Er versuchte sich Lovísa mit einem dicken Bauch vorzustellen und dann mit einem Baby auf dem Arm. Es war ein seltsamer Gedanke für ihn. Er hatte sie selbst als Baby gesehen, hatte gesehen, wie sie größer wurde, wie sie laufen gelernt hatte, in die Schule kam, in die auch er gegangen war. Er hatte sie gesehen, wie sie langsam erwachsen wurde, und jetzt wollte sie selbst ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen.
Plötzlich widerstrebte ihm der Gedanke daran. Er bildete sich ein, dass sie noch nicht reif für so einen Schritt war. Ihr fehlt das Verantwortungsbewusstsein für ein Baby, dachte er, aber er wusste, dass er sich dabei selbst belog. Er wusste, dass sie davon mehr hatte als er selbst, obwohl sie jünger war.
Hatte er Angst davor? Angst, Onkel zu werden? Er schmunzelte bei dem Gedanken daran, dass ein kleines Bündel mit dicken Windeln ›Onkel Ólafur‹ zu ihm sagen würde. Er würde sich daran gewöhnen. Er musste sich daran gewöhnen, wenn es nicht nur ein spontaner Wunsch seiner Schwester war. Ein kurzes Aufwallen der Mutterinstinkte oder eine hormonelle Schwankung.
Er sah die gelben Fahnen auf dem Gebäude und wusste, dass er am Ziel seiner Fahrt war. Er parkte seinen grün-weißen Wagen direkt unter einem Schild, das für den Erhalt des Flughafens warb, von dem er noch nie abgeflogen war: ›Ich bin ein Berliner. Ja zu Tempelhof‹.
»Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen«, sagte die Dame hinter dem Tresen. Ihre grelle Haarfarbe passte zu den künstlichen Fingernägeln und dem billigen Schmuck.
»Ich bin nicht irgendein Kunde, sondern von der Polizei.« Davídsson hielt ihr die Marke direkt unter die Augen.
»Da steht Bundeskriminalamt.«
»Das ist die Polizei.«
Sie zögerte. Es gab zu viele Menschen, die sich nicht mit so etwas beschäftigten. Menschen, die nicht einmal wussten, von wem sie gerade regiert wurden.
»Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen mit der Pressestelle sprechen.«
Er gab sich geschlagen und ließ sich von einer Mitarbeiterin der Pressestelle im Aufzug nach oben begleiten, obwohl ihm der Gedanke an die Presse im Moment großes Unbehagen bereitete.
Die Pressesprecherin warf einen kurzen Blick auf den BKA-Ausweis, bevor sie ihn anlächelte. »Das sieht aber nicht wie ein Presseausweis aus.«
»Tja, unten wusste man damit nichts anzufangen.« Davídsson musterte sie, ohne es sich anmerken zu lassen. Sie sah sehr gepflegt aus und sah ihn aus leuchtenden braunen Augen an. Er erklärte ihr kurz sein Anliegen.
»Die Vermietung unserer Betriebswohnungen haben wir an eine Betreibergesellschaft abgegeben. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja trotzdem helfen.« Sie ging voran in ihr schmales Büro, das noch kleiner sein musste als seines. »Berlin ist pleite, und da die BVG eine hundertprozentige Tochter der Stadt ist …«
Sie war ziemlich groß und schlank. Ihre dunklen Haare waren zu einem Dutt gebunden. Davídsson hatte davon gelesen, dass dieser Kopfschmuck wieder in Mode gekommen war. Ihr stand er.
»Das werden Sie aber nicht der Presse erzählen, oder?«
Sie lachte und zeigte dabei makellose weiße Zähne. »Das wissen die schon selbst, wenn sie hierherkommen.«
Sie setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl und deutete auf den einzigen Sessel im Raum, der zwischen Schreibtisch und Fenster stand.
»Die Wohnungen in den Ceciliengärten werden nur an aktive Mitarbeiter vermietet. Natürlich bleibt dieses Privileg auch während der Rente erhalten, aber die Kinder dürfen das schon nicht mehr. Das Wohnrecht ist also nicht vererbbar, wenn man überhaupt von einem Wohnrecht sprechen kann. Die Betriebsangehörigen können sich auf eine Wohnung bewerben, und wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, bekommen sie eine Wohnung, wenn eine frei ist.«
»Können Sie auf die Vertragsdaten zugreifen?«
»Ich hatte ganz vergessen, Sie zu fragen, ob Sie einen Kaffee wollen. Wir haben aber auch Wasser.«
Bevor Davídsson etwas erwidern konnte, war sie bereits aufgestanden. Düfte strichen an ihm vorbei.
Sie kam mit zwei Tassen zurück, von denen sie eine vor ihn auf den Schreibtisch stellte. Die andere behielt sie in der Hand.
»Ich habe eine Freundin in der Vertragsverwaltung, die mir dabei behilflich sein könnte.
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